Eine Frau, Anfang 40, sehnt sich nach einem neuen Partner. Auf einem Online-Dating-Portal lernt sie einen gut aussehenden, verständnisvollen Engländer kennen. Doch der Traummann ist bloß eine Illusion.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Esslingen - Eine selbstbewusste Frau wäre auf die schwülstigen Schmeicheleien wohl nicht hereingefallen. Eine Frau, die sich nicht einsam fühlt, hätte die plumpe Masche vermutlich durchschaut. Doch die kaufmännische Angestellte Claudia Mink* lebt in Scheidung und kämpft seit der Trennung von ihrem Ehemann mit Depressionen. Die Kinder sind in der einen Woche bei ihm, in der anderen bei ihr. Dazu der 80-Prozent-Job, der sie manchmal überfordert. Claudia Mink hat kein leichtes Leben.

 

Aber dann taucht plötzlich der vermeintliche Retter auf: ein Typ wie Howard Carpendale, nur jünger, der sich für sie und ihre Alltagssorgen interessiert. Ein sanfter, blonder Riese, der sagt: Ich verstehe dich, ich höre dir zu. Der ihr Komplimente macht. Nach wenigen Tagen ist Claudia Mink blind vor Liebe. Sie kann nicht sehen, was alle anderen sehen: Ihr Traummann ist ein Phantom und sie ein dankbares Opfer.

Vergangene Woche im Café Flo in der Esslinger Altstadt. Claudia Mink ist hin- und her gerissen, als sie zu dem Gespräch erscheint. Einerseits war sie tags zuvor auf dem örtlichen Polizeirevier, um Strafanzeige gegen einen sogenannten Love-Scammer – auf Deutsch: Liebesbetrüger – zu erstatten. Andererseits hofft sie noch immer, dass sie ihre tiefen Gefühle nicht getäuscht haben, dass doch noch ein Wunder geschieht und für die unzähligen Widersprüche eine schlüssige Erklärung auftaucht.

Nach wie vor bearbeitet der Love-Scammer Claudia Mink mit Worten, sie liest die neueste Nachricht vom Smartphone ab: „Hi Honey, I come to you. We could meet in Stuttgart soon. I love you.“ – „Hallo Süße, Ich komme zu dir. Wir können uns bald in Stuttgart treffen. Ich liebe dich.“ Claudia Minks Augen werden hinter den Brillengläsern feucht. „Vielleicht erscheint er ja wirklich“, flüstert sie.

„Hasenpfötchen“ sucht einen Partner

Die Tragödie, in deren Verlauf die Hauptfigur viel Geld und jegliches Vertrauen verlieren wird, beginnt am 7. Oktober dieses Jahres. Nach der Arbeit setzt sich Claudia Mink an ihren PC und meldet sich unter dem Pseudonym „Hasenpfötchen“ bei dem kostenlosen Online-Dating-Portal Finya an. Sie träumt von einem neuen Partner, einer harmonischen Beziehung und einer heilen Familie. Ihr Profil füllt sie wahrheitsgemäß aus: 42 Jahre alt, in Trennung lebend, drei Kinder, Wohnort: Esslingen. Dazu stellt sie ein Foto, das ihr Sohn Justin* von ihr gemacht hat. Es zeigt sie lächelnd im Schlafzimmer vor dem Bauernschrank, ihre Brille hat sie abgenommen.

Es dauert keine Stunde, bis sich ein Verehrer bei ihr meldet. „Ich bin an dir interessiert, weil du ein schönes Gesicht hast“, schreibt er auf Englisch. Sie denkt „So etwas hat noch nie ein Mann zu mir gesagt“ und schaut sich sein Profilfoto an: ein gut aussehender Mann, um die vierzig, mit hellblauen Augen und Dreitagebart. Claudia Mink sendet eine freundliche Botschaft zurück, er schickt sofort eine neue. Nach ein paar Tagen hat sie bereits Schmetterlinge im Bauch. Als er vorschlägt, die Dating-Plattform zu verlassen und lieber per E-Mail weiterzuflirten, ist sie einverstanden.

Das Verhältnis wird täglich enger, seine Nachrichten ausführlicher. Er heiße Stefan Chad Joe, teilt er mit, und stamme aus England. Als Seemann habe er schon den halben Globus bereist, zurzeit arbeite er auf einer Ölplattform in der Nordsee. Er sei nie verheiratet gewesen, habe aber aus einer flüchtigen Beziehung mit einer Französin einen 15-jährigen Sohn, der chronisch krank sei und in Paris bei einer Betreuerin lebe. Auch Claudia Mink verrät einiges über sich, schreibt Stefan von ihren privaten Problemen, dass sie regelmäßig meditiere und unter all der Gewalt und dem Materialismus auf dieser Welt leide. Er antwortet: „Deine Worte berühren mich tief. Auch ich wünsche mir vor allem Frieden. Ich spüre, dass unsere Seelen verwandt sind. Wir sind beide Sternenkinder.“

Viel Tiefgründiges, wenig Erotik

Claudia Mink hat die gesamte Korrespondenz auf einem USB-Stick ins Café mitgebracht, um zu dokumentieren, mit wie viel psychologischem Geschick sie über Wochen manipuliert wurde. Ursprünglich wollte sie das Material unzensiert weitergeben, entscheidet sich im Laufe des Gesprächs aber anders. „Die meisten Sachen sind zu persönlich.“ Letztlich serviert sie ein paar Kostproben, die belegen sollen, dass es in dem E-Mail-Verkehr kaum um Erotik ging, sondern hauptsächlich „um Tiefgründiges, Geistiges, um Themen wie Vertrauen und Zweisamkeit“. Ihre Leidenschaft für Yoga, ihre Ängste wegen all der Kriege, ihr Stress aufgrund der bevorstehenden Scheidung – alles schien ihn zu interessieren. „Und dann kam als Würze die sexuelle Fantasie hinzu. In mir wurden Gefühle geweckt, die ich nicht mehr gekannt hatte.“

Keine drei Wochen nach dem ersten Kontakt ist Claudia Mink überzeugt, dass sie einen Mann gefunden hat, der sie so nimmt, wie sie ist. Der ihr keine Vorwürfe macht, wenn sie mal wieder an Anforderungen des Alltags scheitern sollte. Der ihr eine starke Schulter zum Anlehnen bietet und ihr verständnisvoll zuhört.

Am 20. Oktober bittet Stefan sie erstmals um Geld. Sein Sohn Marlon habe Nierenkrebs, ein Medikament, welches das Immunsystem stimuliere, könne ihn vielleicht heilen. Leider sei er, Stefan, nicht flüssig, weil er kürzlich Opfer eines üblen Betrugs geworden sei. Claudia Mink will helfen. Sie bietet an, Marlon vorübergehend bei sich aufzunehmen und den Jungen im Olgäle untersuchen zu lassen. Stefan zeigt sich begeistert von der Idee und verspricht, dass er seinen Sohn so bald wie möglich von Paris nach Stuttgart schicken werde. Doch zunächst benötige Marlon das Medikament.

Claudia Mink geht in eine Filiale des globalen Finanzdienstleisters MoneyGram und überweist 100 Euro an Marlon Joe in Paris. Tags darauf schreibt Stefan, dass sein Sohn eine medizinische Unbedenklichkeitsbescheinigung benötige, um von Frankreich nach Deutschland reisen zu dürfen. Das Dokument koste 500 Euro.

Sie will den Zweiflern nicht glauben

Jeder, dem Claudia Mink von ihrem kostspieligen Internet-Verhältnis erzählt, wittert den Betrug. „Beende das sofort!“, sagt eine Arbeitskollegin. „Der will nur dein Geld!“, warnt ihr Sohn. Und selbst der Filialleiter bei MoneyGram rät von weiteren Überweisungen ab: „Glauben Sie mir, das ist bestimmt ein Schwindel.“

Claudia Mink ist verunsichert. Doch ihre Zweifel schwinden wieder, als sie via Google Stefans Angaben überprüft. Die Ölplattform in der Nordsee, auf der er arbeitet, gibt es tatsächlich. Das „Velocardiofacial Syndrome“, unter dem sein Sohn leidet, findet Claudia Mink ebenso wie das Pariser Hotel, in dem Marlon und dessen Betreuerin untergebracht sind. Claudia Mink schließt daraus, dass Stefan ihr stets die Wahrheit schreibt – und zahlt weiter. Mal 200 Euro für zusätzliche Medikamente, die den schwer kranken Jungen transportfähig machen sollen, mal 1000 Euro für eine ausstehende Hotelrechnung.

Erst Anfang November verlangt Claudia Mink von Stefan einen untrüglichen Beweis dafür, dass es ihn tatsächlich gibt. Statt sich weiterhin gegenseitig E-Mails zu schicken, will sie skypen. Doch irgendetwas geht bei der Übertragung schief, sie kann ihren Liebsten zwar hören, aber der Bildschirm bleibt schwarz. Sie erklärt sich die Panne damit, dass ihr Computer mit einem betagten Betriebssystem ausgerüstet und die Online-Verbindung von der Nordsee aufs Festland nicht die beste ist. Immerhin hat sie Stefans sonoren Bariton gehört und seine frohe Kunde: „Marlon ist nun so weit, dass er zu dir nach Stuttgart kommen kann.“ Sie müsse nur noch 400 Euro für das Flugticket überweisen.

Vermutlich wäre Claudia Mink noch tiefer ins Verderben gestürzt, wenn sich ihr Sohn Justin nicht so gut im Internet auskennen würde. Der 14-Jährige findet heraus, dass Stefans Skype-Account in der ghanaischen Hauptstadt Accra registriert ist und – durch eine Google-Bilder-Rückwärtssuche – dass das Profilfoto, auf dem der englische Seemann Stefan Chad Joe zu sehen sein soll, in Wirklichkeit den kanadischen Schauspieler Sonny Surowiec zeigt. Surowiec ist attraktiv, aber nicht berühmt. Als Standardbesetzung für Nebenrollen in B-Movies lässt er sich ideal für kriminelle Zwecke missbrauchen: Keine Frau kennt ihn hierzulande, doch viele deutsche Frauen, die mal ein Bild von ihm gesehen haben, würden ihn gerne kennenlernen. „Mama, du bist einem Love-Scammer aufgesessen“, fasst Justin das Ergebnis seiner Online-Recherchen zusammen.

Verliebt in eine Illusion

Nachdem Claudia Mink die erdrückenden Beweise von ihrem Sohn präsentiert bekommen hat, dämmert ihr, dass sie sich in eine schöne Illusion verliebt hat. Sie fordert Stefan per E-Mail auf, sämtliche Ungereimtheiten zu erklären. Der serviert ihr eine abenteuerliche Geschichte: Er sei der Zwillingsbruder von Sonny Surowiec. Kurz nach der Geburt in Kanada seien sie getrennt worden und er, Stefan, von einem Engländer adoptiert worden. „Ich komme bald zu dir, Honey, und werde dir alles in Ruhe erzählen. Wenn du willst, können wir dann auch unsere Hochzeit vorbereiten.“

In der digitalen Welt benötigen Heiratsschwindler weder Rosen noch einen Porsche, um Frauen zu beeindrucken. Es genügen Worte. Offizielle Statistiken über Liebesbetrug im Internet gibt es nicht. Schätzungen der Polizei zufolge werden auf diese Weise bundesweit jährlich mindestens zehn Millionen Euro ergaunert. Bekannt ist, dass die meisten Love-Scammer von Nigeria und Ghana aus agieren. Hinter ihnen stecken Verbrecherbanden, die einsame Frauen aus westlichen Industrienationen ins Visier nehmen. Die Traummänner, die man ihnen präsentiert, sind frei erfunden.

Es sind noch drei Wochen bis Heiligabend, dem Fest der Liebe, und Claudia Mink sitzt mit gebrochenem Herzen vor ihrem Cappuccino. „Ich war wie unter Drogen“, erzählt sie. „Mein Denken ist nur noch um diesen Mann gekreist. Das Schlimmste ist: ich fühle mich noch immer zu ihm hingezogen, die Drogen zirkulieren noch immer in meinem Blut.“

Insgesamt 2700 Euro hat Claudia Mink an ein Phantom überwiesen. Ihr ganzes Weihnachtsgeld ist draufgegangen. Keine Bank hält sie für kreditwürdig, sonst hätte sie sich womöglich für ihren Traum von einer neuen Beziehung auch noch verschuldet. Auf Anraten eines Freundes hat Claudia Mink Strafanzeige gegen den unbekannten Betrüger gestellt. Es gibt jetzt ein Aktenzeichen, mehr wird sich in der Sache wohl nicht tun. Denn wie sollte die Esslinger Polizei die Täter im 7000 Kilometer entfernten Accra ermitteln?

„Es schmerzt wahnsinnig, wenn man merkt, dass die große Liebe eine große Lüge war“, sagt Claudia Mink. „Ich fühle mich emotional missbraucht.“ Sie schaut auf ihr Smartphone, eine neue Nachricht von Stefan ist gerade eingegangen. Er könne jetzt die Bohrinsel verlassen, allerdings sei das nur per Hubschrauber möglich: „Bitte, Honey, überweise mir 300 Euro für den Flug. Dann komme ich gleich morgen zu dir nach Stuttgart. Ich liebe dich.“