Innerhalb von 100 Jahren dehnte sich Daimler massiv nach Süden und nach Westen aus – von 38 auf fast 300 Hektar. Dabei gehe es stets mit rechten Dingen zu, heißt es aus dem Rathaus. Die Stadt musste derweil in den Wald wachsen.

Böblingen: Kathrin Haasis (kat)

Sindelfingen - Daimler hat Monaco längst überholt: Über das 202 Hektar große Fürstentum ist das Sindelfinger Werk um fast 100 Hektar hinausgewachsen. Auch im Jubiläumsjahr dehnt sich das Unternehmen wieder ein Stück weiter aus. Im Westen entsteht eine große Montagehalle. Und im Osten neben der Autobahn, wo einst IBM Chips und Halbleiter produzieren ließ, ist gerade erst eine zusätzliche Fabrik hochgezogen worden. Zuletzt legte der Autobauer dem Gemeinderat im vergangenen April Erweiterungspläne vor: Vier Hektar sollen der Stadt am östlichen Werksende abgekauft werden. Das Gremium stimmte dem Vorhaben zu.

 

Für Daimler werden in Sindelfingen sogar Straßen verlegt. Um sein Entwicklungszentrum an das Werk anschließen zu können, musste vor rund zehn Jahren die Calwer Straße einen großen Bogen machen – allerdings auf Kosten des Konzerns. Nun soll die Tübinger Allee überbaut werden. „Sindelfingen und Daimler, das ist eine Symbiose“, sagte Andreas Dölker-Schneider im April. „Wir müssen immer wieder Meilensteine setzen, um den Sindelfinger Standort des Konzerns zu stärken“, erklärte der SPD-Stadtrat.

Kaum Widerstand gegen den Flächenverbrauch

In Sindelfingen hat es kaum Widerstand gegen den Flächenverbrauch von Daimler gegeben. „Es gibt Problemstellungen, aber es ging nie in Richtung Protest“, sagt der Stadtplaner Thomas Leonhardt. Die jüngste Problemstellung ist schon mehr als zehn Jahre her: Damals wollte Daimler für seine Konstruktionsabteilung vom Gebiet Mittelpfad Besitz ergreifen, aber um das Gelände als Frischluftschneise zu erhalten, sammelte eine Bürgerinitiative Tausende von Unterschriften. Das Unternehmen verzichtete und durfte dafür massiv auf der anderen Seite der Calwer Straße bauen, die wiederum nach Norden verlegt wurde. Von einer Lex Daimler sprach daraufhin ein grüner Stadtrat.

„Die Lex Daimler gibt es natürlich nicht“, sagt Thomas Leonhardt. Alle Firmen würden entsprechend der planungsrechtlichen Vorgaben gleich behandelt. Auch wenn ein Zaun um das Gelände gezogen sei, existiere Daimler nicht in einer Welt für sich. Für jeden noch so kleinen Anbau müsse der Autobauer den üblichen Bauantrag stellen. Aber ganz schnell fällt bei dem Stadtplaner dann das Wort Stolz und Standortsicherung und dass es immer besser sei, wenn sich Daimler in Sindelfingen weiterentwickle und nicht irgendwo anders. „Wir stehen zu dem Werk, 100 Prozent“, sagt Thomas Leonhardt.

Von Anfang an intensive Wirtschaftsförderung

Von Anfang an hat die Stadt intensive Wirtschaftsförderung betrieben. Als vor 100 Jahren der Flughafen in Böblingen angesiedelt wurde, verlangte der Schultheiß von der Militärverwaltung eine Fabrik als Ausgleich. Am 6. Juli 1915 unterschrieb er mit der Daimler-Motoren-Gesellschaft den Vertrag. Die Firma forderte 38 Hektar zu einem günstigen Preis. Aus Äckern, Wiesen und Sumpf bestand das Gelände rund um das Gewann mit dem Namen Benz, der übrigens vom Wort Binsen stammt. Der Gemeinderat beklagte, dass sich manche der 170 Grundstücksbesitzer „recht streitig zeigten und Preise verlangten, die in gar keinem Verhältnis zum Wert und zur Lage der Grundstücke stehen“. Rücksicht auf die Allgemeinheit sei wenig zu finden, „wohl aber große Habsucht”. Sindelfingen zahlte 70 000 Mark drauf, was einer Umrechnungstabelle des Statistischen Landesamtes nach 250 000 Euro sind.

Für ein Dorf mit knapp 3000 Einwohnern muss es sich um eine große Investition gehandelt haben. Auf einer Luftaufnahme von 1918 ist die Altstadt so groß wie die große Montagehalle. „Das Werk war wie ein Motor“, sagt der Stadtplaner. Als die Geschäfte mit dem Automobil nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs so richtig an Fahrt aufnahmen, fing auch die Stadt an, rasant zu wachsen. Rund 16 500 Einwohner waren es 1955, etwa 15 Jahre später war die Zahl auf mehr als 43 000 hochgeschnellt, heute leben in Sindelfingen etwa 61 000 Menschen. „Da hat man regelrecht Wohngebiete in den Wald geschlagen“, erklärt Leonhardt, denn davon hatte die Stadt in Richtung Norden mehr als genug.

Mittlerweile geht die Fläche zur Neige – für Wohngebiete und das Werk. Der Stadtplaner meint aber, dass Daimler nun genug hat: „Das Unternehmen baut sich permanent von innen heraus um“. Tatsächlich wird auf dieser Grundlage ein im Juli verkündetes Investitionsprogramm in Höhe von 1,5 Milliarden Euro umgesetzt. Für die Montagehalle im Westen muss beispielsweise ein Parkplatz weichen, der platzsparend in ein Parkhaus verlagert wird. Monaco verfolgt die gleiche Strategie: Dort leben 17 000 Einwohner auf einem Quadratkilometer, in Sindelfingen sind es 1213.