Vor hundert Jahren stürzte Europa sich in den Selbstzerstörungsmodus. Die Folgen prägen die Welt bis heute. Im Gedenkjahr geht es nicht um Zahlenmagie, sondern um die Lehren aus der verhängnisvollen Geschichte - und um wahrhaftige Erinnerung, meint Tim Schleider.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Ein Museumsbesuch im kanadischen Toronto an einem Freitagvormittag im November: durch die Art Gallery of Ontario schlendern Besucher aus aller Welt. Um Punkt elf unterbricht plötzlich ein Gongschlag den Kunstbetrieb: Auf Englisch und Französisch werden die Besucher gebeten, für eine Minute still zu verharren und der Opfer aller Kriege, besonders aber der Opfer des Ersten Weltkriegs zu gedenken. Und tatsächlich, überall im Haus bleiben die Menschen stehen, viele schließen die Augen, die Zeit scheint ein wenig stillzustehen. Nach einer Weile erweckt ein weiterer Gongschlag das Museum wieder zum Leben.

 

Es ist Remembrance Day: Am „elften Tag des elften Monats um elf Uhr“ des Jahres 1918 sollten die Waffen nach vier schrecklichen Kriegsjahren wieder schweigen, so sah es der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne vor. Ein Weltkrieg ging so zu Ende. An diesen 11. November 1918 wird in vielen Ländern der englischsprachigen Welt, auch in den USA, bis heute erinnert. Auch in Frankreich und Belgien ist es ein Feiertag. Und die Polen haben den 11. November gar zum Nationalfeiertag erklärt; für sie war der Waffenstillstand von Compiègne zugleich die Stunde ihrer staatlichen Wiedergeburt nach 123 Jahren preußischer, russischer und österreichischer Fremdherrschaft.

Die Erinnerung ist überlagert vom zweiten Weltkrieg

Von alldem bekommen wir in Deutschland zumeist nichts mit. Am 11. November beginnt bei uns um 11.11 Uhr der Karneval. Wie überhaupt die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der Öffentlichkeit keine große Rolle spielt. Wenn es um die Schrecken eines Weltkrieges geht, dann denken wir automatisch an den Zweiten. Die Gründe dafür sind nachvollziehbar: Das Ausmaß der Gewalt und der Verbrechen, welche in den Jahren 1939 bis 1945 zu verzeichnen waren und die weit überwiegend auf dem Schuldkonto der Deutschen zu Buche schlagen, übersteigt das Maß von 1914 bis 1918 noch um einiges. Zudem hat es lange genug gedauert und harter gesellschaftlicher Kämpfe bedurft, bis die deutsche Gesellschaft diese Gewalt und diese Verbrechen angemessen zur Sprache gebracht hat. Aus solcher Perspektive mindert sich der Schlachtenlärm des Ersten Weltkriegs zum reinen Vorspiel.

Nun wissen auch andere Länder in der Welt von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs viel zu erzählen. Dennoch verknüpfen sie ihr Urbild vom restlos entfesselten, alles umstürzenden Krieg mit dem Ersten. Für sie ist den Schrecken der Jahre 1914 bis 1918 auch mit keiner Ordnungszahl beizukommen, sie nennen die Zeit klar und uneingeschränkt „The Great War“ und „La Grande Guerre“, also „der Große Krieg“. Das ist Ausdruck einer Grunderschütterung der gesamten Gesellschaft, eines zivilisatorischen Einschnitts. Wir wissen, dass tektonische Beben in aller Regel nur wenige Sekunden dauern und dennoch den Menschen, die sie erlebt haben, ein Leben lang als tiefes Angstgefühl in Erinnerung bleiben. Das historische Erdbeben des Großen Krieges währte aber nicht Sekunden, sondern vier Jahre. Der US-Diplomat und Historiker George F. Kennan hat darum die Formulierung von der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ geprägt.

Gedenkrituale sind nicht alles

Das Wort von der „Urkatastrophe“ werden wir in diesem Jahr zweifellos oft zu hören bekommen. 1914–2014: der Zahlenmagie eines Hundertjahrjubiläums wird sich kein Medium entziehen können. Spätestens Anfang August, wenn sich die verhängnisvolle Kette von Kriegserklärungen jährt, werden die höchsten Vertreter vieler Staaten zu Gedenkfeiern rufen, werden mahnende Worte finden, uns alle aber auch glücklich preisen, dass angesichts der europäischen Einigung die Schrecken jener Jahre für immer gebannt scheinen. Derlei Rituale werden wiederum die Gedenkskeptiker in ihrem Urteil bestätigen, dass die Beschäftigung mit historischen Stoffen allenfalls ein Zeitvertreib ist, sich im Betrachten alter Bilder und der Wiederholung von Worthülsen erschöpft und mit der Bewältigung drängender Fragen unserer heutigen Zeit eigentlich nichts zu tun hat.

Doch solche Vorbehalte sind falsch. Tatsächlich lässt sich an diesen vier Kriegsjahren vielerlei ablesen und erforschen, was die Welt nach dem 11. November 1918 tief geprägt hat – und als Problem, Konflikt, als politische Frage noch heute beschäftigt. Das beginnt zweifellos bei der Debatte über die Kriegsursachen. Nicht umsonst befasst sich der britische Historiker Christopher Clark in seinem aktuellen Werk „Die Schlafwandler“ auf vielen hundert Seiten mit der Vorgeschichte der „Urkatastrophe“. Denn wie kann es sein, dass aus einem zweifellos schweren, eigentlich aber begrenzten regionalen Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien innerhalb von vier Wochen ein Krieg erwächst, der zunächst ganz Europa, später auch den Nahen Osten, Afrika, Ostasien, die Weltmeere beherrschen wird? Der Große Krieg führt dramatisch vor, wie schmählich internationale Diplomatie scheitern und wie verhängnisvoll die unumschränkte Logik der Militärs in der Politik herrschen kann.

Aus diesem Krieg konnte sich niemand raushalten

Es ist ein Krieg, der alle Staaten dieser Welt zwingt, sich früher oder später entweder auf die eine oder auf die andere Seite zu schlagen, ins Lager der Alliierten oder in jenes der Mittelmächte, oder aber Neutralität zu erklären, wohl wissend, dass im Zweifelsfall dieser Anspruch auf Neutralität nichts helfen wird. Keiner kann sich zum Krieg nicht verhalten. Die neutralen Luxemburger und Belgier sind gleich zum Beginn des Krieges die ersten, die beim Überfall durch deutsche Truppen diese leidvolle Erfahrung machen; Tausende von Zivilisten werden als vermeintliche Partisanen von deutschen Soldaten exekutiert.

Es ist ein Krieg, der alle Ressourcen der Staaten aufsaugt, der die Gesellschaften auspresst, der die Menschen nur noch als Ding begreift, das an den Fronten und in der Heimat ebenso rücksichtslos verbraucht wird, wie es die Kräfte und Erzeugnisse der Wirtschaft werden, der Industrie, wie die Bodenschätze im eigenen und im eroberten Land, wie das Land überhaupt. Alles ist nur noch Material. Kriegsmaterial. Das Wort „Materialschlacht“ wird hier geboren. Nichts hat einen Eigenwert mehr. Alles ist allein Mittel zum Zweck. Der Zweck ist der Krieg. Wirtschaft und Wissenschaft dienen überall dem Krieg. Die Kultur, von der wir heute so gern glauben, sie sei völkerverbindend, sie gebe den Stimmen der Vernunft und der Verständigung Ausdruck: nein, gerade sie dient hier dem Krieg. Die Professoren und Denker, die Dichter und Dramatiker: sie rufen die Politik „zur Stärke“ auf, hetzen, befeuern die Ressentiments der Menschen gegen ihre Nachbarn, verbinden Fortschritt mit Gewalt und dem Recht des Stärkeren, suhlen sich im wahnhaften Glauben an eine „reinigende Kraft des Feuers“.

Der Krieg, in dem kein Tabu mehr gilt

Es ist der Krieg, der viele Tabus bricht. Es ist der Krieg, in dem bereits nach drei Wochen die Opferzahlen bisher unvorstellbare Ausmaße erreichen: erst 10 000, dann 20 000, dann 30 000 – wohlgemerkt, jeweils an einem einzigen Tag und an einem einzigen Frontabschnitt im Westen. Es ist der Krieg, in dem bereits nach drei Monaten Fünfzehnjährige in den sicheren Tod marschieren. Es ist der Krieg, in dem nach neun Monaten angesichts großer Engpässe beim Nachschub gewöhnlicher Munition zum ersten Mal Giftgas eingesetzt wird; tödliches Chlorgas. Ein deutscher Offizier schreibt in einem Brief von seinen anfänglichen Hemmungen, den Feind „wie Ratten“ zu bekämpfen. Es ist der Krieg, in dem der einzelne derartige Hemmungen schnell überwindet. Es ist schließlich auch der Krieg, in dem nach zehn Wochen der erste systematische Völkermord politisch beschlossen wird: Am 30. Mai 1915 ordnet die Regierung in Konstantinopel die Zwangsdeportation der Armenier an; man fürchtet deren Verbrüderung mit den angreifenden christlichen Russen. Wenn man so will, ist dieser Krieg damit auch die Stunde der politisch sanktionierten Geschichtslüge, denn bis zum heutigen Tag wird die kalkuliert betriebene Vernichtung der Armenier in der Türkei offiziell geleugnet, und Menschen, die an sie erinnern, werden politisch und juristisch verfolgt.

Es ist der Krieg, der die Allmacht des militärischen Denkens und die Ohnmacht des politischen Denkens offenbart. Alle Länder glauben, sie müssten einfach mit aller Stärke ihre militärischen Kräfte dem Feind entgegenwerfen, dann sei der Kampf in kürzester Zeit entschieden. Es gibt kein Abwägen, keine Abstufungen, kein Aushandeln. Es gibt nur ein Alles.

Militärisch ist nach kurzer Zeit alles entschieden

Dabei sind bereits nach wenigen Wochen alle großen Strategien gescheitert. Die Westfront zwischen der Nordsee und der Schweiz steht fest, auf beiden Seiten sind die Soldaten in ihren Schützengräben zwölf Meter tief unter der Erde eingegraben. Der deutsche Generalstabschef Erich von Falkenheyn schätzt die Lage völlig realistisch ein. Am 18. November 1914 eröffnet er dem Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg, der Krieg sei militärisch verloren; die politische Führung müsse Friedensverhandlungen aufnehmen. Der oberste General erklärt nach hundert Tagen den Krieg mithin für gescheitert. Die Politik und andere Generäle weisen dies brüsk zurück. Den ersten hundert Tagen folgen mehr als tausend.

Es ist der Krieg, in dem U-Boote Schiffe versenken, auf denen Zivilisten reisen. Es ist der Krieg, in dem von einem Zeppelin aus Bomben auf Lüttich fallen und später Bomben auf die Wohnviertel Londons. Es gibt keine sicheren Rückzugsgebiete, weder geografisch noch gedanklich. Es ist der Krieg, der die USA auf Seiten der Alliierten 1917 endgültig in die Weltpolitik holt. Es ist immerhin auch der Krieg, der die Friedenssehnsucht vieler Menschen und ihren Willen zu sozialen Reformen zur politischen Tat reifen lässt. Der Krieg, der erstmals in der Geschichte jenen Stimmen einer Vernunft Gewicht verleiht, die nach verlässlichen, ausgleichenden Regeln internationaler Politik rufen, nach einem Völkerbund. Es ist am Ende dann aber doch wieder nur der Krieg, in dem es den Siegern nicht gelingt, einen klugen, in die Zukunft weisenden Friedensvertrag zu schließen. Sie sind ökonomisch derart zerrüttet, dass sie vom Versailler Vertrag vor allem eines verlangen: Vergeltung und völlig illusionäre wirtschaftliche Wiedergutmachung. Und wäre der Krieg anders ausgegangen, die Deutschen hätten es nicht anders gemacht. Sie hatten 1917 bei ihrem Separatfrieden mit Russland ja das Exempel statuiert. Die Frage, wie ein kluger Friedensvertrag aussieht, beschäftigt uns bis heute.

Was Deutschlands Verantwortung bleibt

Es lohnt sich also, bei dieser und bei vielen anderen Fragen mit dem Blick in die Geschichte eine neue Perspektive auf die eigene Zeit zu gewinnen. Die Debatte ist eröffnet. Zwei erste Thesen aus der Beschäftigung mit dem Großen Krieg seien bereits zum Beginn des Jubiläumsjahres gewagt.

Zum ersten: der Erste Weltkrieg zeigt, wie fatal eine Politik ist, die ideologischen Scheingebilden nachjagt und vor allem glaubt, das Militärische an sich sei schon ein politisches Konzept.

Die zweite These knüpft derweil an die Frage nach der Kriegsschuld an. Nein, Deutschland war keineswegs allein oder hauptsächlich schuld am Ersten Weltkrieg – anders, als es die Sieger im Versailler Vertrag festschrieben und auch anders, als es westdeutsche Historiker in den sechziger und siebziger Jahren formulierten.

Wenn, dann trifft Deutschland eine ganz andere Verantwortung. Der Politologe Herfried Münkler beschreibt dies in seinem neuen Buch „Der Große Krieg“. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war Deutschland in vielen Bereichen das kraftvollste, das dynamischste Land – in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, vernetzt mit der ganzen Welt. Und es war umgeben von Mächten in der Krise: Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn, selbst Großbritannien, mit seinem Weltreich zusehends überfordert.

Der Platz in der Mitte Europas

Die Aufgabe dieses starken Landes in der Mitte des Kontinentes wäre es gewesen, eine Brücke zu sein, für einen Ausgleich der Interessen und den Aufbau neuer Partnerschaften einzutreten. Aber das war unmöglich. Dazu war Kaiser Wilhelm II., der sich als Erbe Friedrichs des Großen sah, zu herrschsüchtig und zu dumm. Und dazu waren die konservativen Eliten des Kaiserreichs viel zu gebannt von ihren Ängsten vor der gesellschaftlichen Öffnung, vor der Arbeiterschaft, vor der Moderne. So wurde just aus dem potenziellen Vermittler Deutschland ein Katalysator politischen Wahns und der Zerstörung.

Am Platz in der Mitte Europas hat sich für Deutschland nichts geändert. Ein Land sein zu wollen, das seine Stärken einsetzt, um für Annäherung und Ausgleich zu sorgen – das lehrt uns die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Und zwischendurch ein, zwei Minuten der Besinnung zu finden, in denen man sich der Schmerzen der Opfer erinnert, auch dies wäre eine gute Übung. Den Toten hilft es nicht. Es hilft uns.

Das Jahrhundertthema beschäftigt uns weiter

Im Lauf des Gedenkjahrs erinnert die Stuttgarter Zeitung immer wieder an unterschiedlichste Aspekte des Ersten Weltkriegs. So beginnt im Februar im Lokalteil eine Serie mit Auszügen aus Feldpostbriefen eines Stuttgarter Soldaten.

Erstmals seit vielen Jahren ist in Deutschland wieder ein großes Überblickswerk zum Ersten Weltkrieg erschienen: „Der große Krieg. Die Welt 1914–1918“ von Herfried Münkler (Verlag Rowohlt Berlin. 924 S., 29,95 Euro). Weiter unerreicht in puncto Stil und Lesbarkeit bleiben aber die Bücher angelsächsischer Historiker, namentlich „Der große Krieg.Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg“ von Adam Hochschild (Verlag Klett Cotta, Stuttgart. 525 Seiten, 26,95 Euro).