Das letzte Dinner auf der Titanic ist mehr als ein Symbol - es dient Kulturwissenschaftlern als Abbild des Luxusverständnisses von damals.

London - Die Consommé Olga, sie wäre unter anderen Umständen wohl längst vergessen. Aber die geklärte Brühe mit der geheimnisvollen russischen Zutat stand auf der letzten Speisekarte der Titanic. Und also wird sie bis heute zubereitet – wenn auch nicht so wie damals. Denn wo bitte soll man Vesiga herbekommen, den getrockneten Rückenmarksnerv des Störs, den die Schiffsköche über fünf Stunden wässerten, dann für drei Stunden kochten und schließlich in feinen Scheiben in ihre Consommé gaben? Das sogenannte letzte Dinner auf der Titanic übt bis heute eine seltsame Faszination aus. Egal ob zum Kinofilm oder zu Silvester – Restaurants in der ganzen Welt richten entsprechende Events aus, und die Gäste stecken sich Straußenfedern ins ondulierte Haar.

 

In der Vorstellung dieses letzten Abendessens verdichtet sich die Titanic-Erzählung: Auf einem Schiff, auf hoher See, in einem abgeschlossenen, gesellschaftlich wie architektonisch in oben und unten unterteilten Raum präsentiert sich eine schier endlose Folge ohnehin schon schwer zu beschaffender, extrem aufwendig zuzubereitender und verderblicher Speisen, verzehrt in unabänderlicher Gesellschaft nach genau zu befolgenden Regeln. Für die Menschen vor hundert Jahren zeigte dieses Dinner ihr Angekommensein auf einem zivilisatorischen Höhepunkt. Es bewies reinen Fortschritt, die harte Währung jener Zeit, den Sieg der Menschen und ihrer Technik über die Elemente.

Noch zehn Gänge vor sich

Zur See fahren, das war doch noch kurz zuvor gleichbedeutend gewesen mit Mangelernährung, mit Skorbut und Lebertran – noch 1854 schrieb die Hamburger Seemannsordnung vor, dass pro Mann und Tag drei viertel Pfund Gerste mitzuführen sei. Und die Titanic? Die lachte darüber: Wer die Consommé Olga nicht wollte, dem stand im First Class Dining Room ein cremiges Gerstensüppchen zur Auswahl. Da hatte man die Austern à la Russe schon hinter sich, aber noch zehn Gänge vor sich.

Heute sehen wir etwas anderes: ein unverschlüsseltes Bild von Vergänglichkeit. Wie in einem Stillleben sind Überfluss, Exklusivität und Klassendenken vor uns ausgebreitet – Ausweis menschlicher Hybris, eine dem Untergang geweihte Szenerie, in der man sich prächtig amüsiert.

Was also wurde serviert bei diesem letzten Dinner? Mit einer Menükarte ist das nicht zu beantworten. Die Gemeinde der Titanic-Aficionados beschäftigt sich im Internet mit allen Details: es geht um Speisenfolgen, die Zahl der Gänge, die Herkunft der Gerichte, die Weinkarte. Ein unerschöpfliches Thema, dem der Titanic-Experte Rick Archbold und die Köchin Dana McCauley ein ganzes Buch widmeten („The last Dinner on the Titanic“, Hyperion, 144 Seiten, 19,85 Euro).

Auf der im Grunde ereignisarmen Atlantiküberquerung wurde Essen überhaupt, aber vor allem das Dinner zum gesellschaftlichen Höhepunkt des Tages. Das Schiff mit seinen Decks war die gebaute Idee des britischen Gesellschaftsgedankens von Above and Below Stairs. Es gab je einen Dining Room für die erste, zweite und dritte Klasse. Die Speisen unterschieden sich erheblich, wobei die Experten betonen, dass auch die Passagiere der dritten Klasse – vornehmlich Einwanderer – in ihrem spartanisch eingerichteten Saal auf dem F-Deck vermutlich besser aßen als je an Land. An weiß gedeckten Tischen wurden Gemüsesuppe, Schweinebraten, Plumpudding und Orangen serviert.

Eigenes Personal, eigene Küche

Ganz am anderen Ende der gastronomischen Skala rangierte das Ritz-Restaurant – es war als À-la-Carte-Restaurant exklusiv für einen Teil der First-Class-Reisenden eingerichtet. Die damals revolutionäre Idee eines À-la-Carte-Restaurants mit wechselnder Karte auf hoher See stammte nicht von der White Star Line. Die deutsche Konkurrenz der Hamburg-Amerika-Linie hatte als Erste ein Ritz-Restaurant eingerichtet, also konnte auch das größte Schiff der Welt nicht hintanstehen. Das Ritz mit seiner Vertäfelung aus französischer Walnuss, seinen Louis-Seize-Sesselchen und seinem hochflorigen roséfarbenen Teppich gehörte nicht eigentlich zur White Star Line, es wurde mit eigener Küche und eigenem Personal betrieben. Luigi Gatti, der Restaurantmanager aus dem berühmten Londoner Ritz, hatte nicht weniger als zehn seiner Cousins mit an Bord. Wenn das Horn die Gäste zum Dinner rief, dann hielten hier die Reichsten und Wichtigsten unter der Reichen und Wichtigen Hof (darunter übrigens auch der Kapitän Edward John Smith, ohne einen Tropfen Alkohol zu trinken) – aber was speisten sie?

Leider habe keiner der Überlebenden, die vor dem Untergang im Ritz dinierten, eine Speisekarte des Abends im Dinnerjacket bei sich gehabt, schreibt Archbold in seinem Kapitel über das Restaurant. Also beschränken sich die Erkenntnisse auf die Beschreibungen der Überlebenden. „Das Essen war hervorragend“, so wird Mrs. Walter Douglas zitiert, „Kaviar, Hummer, ägyptische Wachtel, Kiebitzeier, Weintrauben aus dem Gewächshaus und frische Pfirsiche.“

Erfüllt von Lebensfreude

Derweil trafen sich die anderen Passagiere der ersten Klasse im First Class Dining Room – und dort, so macht Archbold klar, war die Reihe der Gäste nicht weniger illuster. Zur Runde gehörten einige der reichsten Männer Amerikas: John Jacob Astor, Benjamin Guggenheim, der Stahlmagnat Arthur Ryerson und der Macy’s-Mitbegründer Isidor Straus. „Alle waren so fröhlich. Wir waren alle erfüllt von Lebensfreude“, beschreibt ein Passagier die Stimmung. Die Speisenfolge ist überliefert. Was serviert wurde, war vom Großmeister der französischen Küche, Auguste Escoffier, inspiriert – zu diesem Zeitpunkt ein älterer Herr, der, ganz ähnlich den heutigen Fernsehköchen, seinen Namen einigen Unternehmungen lieh.

Archbold beschreibt ein aus elf Gängen bestehendes Dinner. Es gibt Experten, die gegen diese Sichtweise protestieren und der Ansicht sind, die Speisekarten seien als Auswahlmöglichkeit zu lesen gewesen. Aber das Menü folgte der Mode der Zeit: Es begann mit Austern oder Kanapees, gefolgt von einer der beiden Suppen. Danach wandte sich die Tischgesellschaft der Fischvorspeise zu: pochiertem Lachs mit einer Hollandaise, in die geschlagene Sahne eingearbeitet wurde. Der dann folgende Fleischvorspeisengang bestand entweder aus Huhn Lyonnaise, einer panierten Brust, oder Filet Mignon Lili mit Foie Gras und Trüffel – letzteres verkörpere wie kein anderes Gericht die edwardianische Ära, meint Archbold. Auf diese als leicht verstandenen Gänge folgte der Hauptgang: Lamm mit Minzsoße (alternativ Ente oder Rinderfilet), dazu Erbsentimbales, Karotten, „langkörniger Reis“, wie Escoffier empfahl, oder Parmentier-Kartoffeln – Würfel, in Butter geschwenkt.

Es folgte eine Spezialität von Escoffier: Punch Romaine, eine eiskalte kleine Mischung aus Eis, Sirup, Champagner, Weißwein, Orangensaft, Rum und Orangenschale. Heute würde man vermutlich einfach eine Kugel Sorbet servieren. Es folgten die Gänge sieben, acht und neun: gebratenes Täubchen, Spargelsalat mit Safran-Vinaigrette und Foie Gras mit Sellerie.

Der legendäre Waldorf-Pudding

Wer dann noch Papp sagen konnte, hatte die Wahl zwischen viererlei Desserts: Eis, Eclairs, Pfirsiche in Chartreuse-Jelly – oder den Waldorf-Pudding, der zwar legendär sein mag, über dessen Rezeptur sich aber die Gelehrten heutzutage streiten. Damals galt er als Spezialität im Waldorf-Astoria in New York, aber heutzutage ist dort keine zuverlässige Zubereitung mehr überliefert. Danach konnten die Passagiere wählen zwischen Käse und Obst. Passagiere schilderten riesige Obstkörbe mit beeindruckenden Dolden von Weintrauben, dazu Stilton, Gorgonzola, Edamer, Roquefort, Cheddar. Nach diesem Abschluss zogen sich die Gäste in die Salons zurück – manche Herren landeten im Smoking Room, die Gesellschaft breitete sich im Reception Room aus und lauschte dem Orchester, das aus „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach spielte.

Währenddessen hatte man sich übrigens in der zweiten Klasse zum Hymnensingen versammelt, und in der dritten Klasse wurde bereits seit drei Uhr am Nachmittag gefeiert. Allerdings drehten die Stewards dort auch Punkt zehn Uhr das Licht ab. Auch die Lounges der ersten und zweiten Klasse wurden um 23 Uhr geschlossen. Um diese Zeit waren die Beschäftigten im Restaurant und allen drei Speisesälen mit dem Aufräumen und dem Decken der Tische für das Frühstück fertig. Nur in den Rauchsalons wurde ernsthaft getrunken und Karten gespielt.

Der Chef der Nachtbäcker, Walter Belford, hatte schon damit begonnen, seine Brötchen zu formen. Um 23.40 Uhr rammte die Titanic den Eisberg. Es ruckelte. Gerade so viel, dass Belford ein Blech mit frischen Brötchen zu Boden fiel.