Am 12. März 2003 wurde Zoran Djindjic, der erste demokratische gewählte Ministerpräsident Serbiens, ermordet. Eine entscheidende Wende nahm sein Leben als Doktorand in Konstanz.

Konstanz - Am 12. März 2003 stehen zwölf ehemalige Mitglieder einer Spezialeinheit der Polizei bereit, um einen Mann zu töten. Sechs davon sind allein für die Logistik zuständig. Die Aktion mutet fast an wie ein normaler Polizeieinsatz, nur dass die Staatsdiener a.D. sich gegen das Gesetz wenden und einen eiskalten Mordplan verfolgen. Der Einsatzleiter, ehemaliger Chef der gefürchteten Polizeieinheit „für besondere Operationen“ (JSO), sitzt in einer nahen Wohnung und kontrollierte die ganze Aktion per Handy. Ihr Ziel heißt Zoran Djindjic.

 

Er ist 50 Jahre alt und seit zwei Jahren serbischer Ministerpräsident. Vor dem Belgrader Regierungsgebäude wollen sie ihn umbringen. In einem 180 Meter entfernten Haus hat sich ein Scharfschütze auf die Lauer gelegt. Um 12.25 Uhr trifft seine erste Kugel Zoran Djindjic. Als der Premier im Notfallzentrum der Belgrader Klinik stirbt, ist die Operation abgeschlossen. Erfolgreich, wie es in diesen Kreisen heißt.

Bis heute sind die Hintergründe der Bluttat nicht vollständig aufgeklärt. Vieles blieb im Dunkeln. Der Todesschütze hatte nur zwei Schüsse abgegeben. Auf die erste Kugel, die Djindjic traf, als er aus dem Auto stieg, folgte eine zweite, die seinen Leibwächter schwer verletzte. Merkwürdig, dass das tödliche erste Geschoss von rechts kommend in die Brust eindrang, Djindjic dem Schützen aber die linke Seite zugekehrt hatte. Am Eingang des Regierungsgebäudes wurden später Spuren eines dritten Projektils gefunden.

Mit den „Roten Barette“ hatte Djindjic schon verhandelt

Die Tat wird der organisierten Kriminalität zugeschrieben. Die gefürchtete JSO, auch „Rote Barette“ genannt, ist Teil dieser Schattenwelt, die zunächst relativ offen auftritt. Als sie aufgelöst wird, beginnt sie ein Eigenleben. Als Hauptdrahtzieher des Attentats wird ihr Kommandant, der berüchtigte frühere Fremdenlegionär Milorad Lukovic, genannt „Legija“, verdächtigt. Mit ihm hatte Djindjic im Hintergrund verhandelt, als bei Massenprotesten im Oktober 2000 das Parlament gestürmt wurde. Zoran Djindjic erreichte, dass sich die mit Milosevic verbundene paramilitärische Einheit ruhig verhielt und teilweise die Demokratiebewegung unterstützte. Damit konnten damals wohl blutige Unruhen verhindert werden. Dieser diplomatische Akt gilt bis heute als Djindjic’ Meisterwerk im Fach des politischen Pragmatismus.

Wer war Zoran Djindjic? Was waren seine Wurzeln? Was hat ihn geprägt? Wer sich solche Fragen stellt, muss sich die Lebensgeschichte des ehemaligen Oppositionsführers und ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Serbiens vor Augen führen. Und er wird feststellen, dass die Stadt Konstanz darin eine wichtige Rolle spielt.

Universität Konstanz erinnert an den berühmten Doktoranden

In der beschaulichen Universitätsstadt am Bodensee soll das Leben des Zoran Djindjic eine neue, entscheidende Richtung erhalten. Am Bodensee wird der neue Zoran geboren, hier erlebt er seine Auferstehung als Wissenschaftler, Intellektueller und als Politiker. Dessen sind sich drei seiner Weggefährten aus den vergangenen Konstanzer Tagen sicher. Die Universität erinnert mit einer bis in den Mai dauernden Veranstaltungsreihe an ihren ehemaligen Doktoranden, der zum Staatsmann wurde. Am 20. März werden viele ehemalige Freunde und Weggefährten zu einem Gedenktag erwartet. Ehrengast ist Ruzica Djindjic, seine Witwe.

Zwei Etagen geht es enge, knarzende Treppenstufen hinauf, dann empfängt Ernst Köhler in Jeans und blau-weiß kariertem Baumwollhemd den Besucher. Der 74-Jährige lebt hier in der Niederburg, mitten in der Konstanzer Altstadt in einer bescheidenen und mit Büchern vollgestopften Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Köhler, Doktor der Geschichte und in der Historiografie habilitiert, ist in den 60er und 70er Jahren ein wilder, heute ein gemäßigter Linker. An der damals jungen Reformuniversität Konstanz wirkt er als Assistent, bevor er sich mit den Granden anlegt und überwirft, weil er seine Studenten zu milde benotet, wie man ihm vorwirft. Er wird Gymnasiallehrer, wo er wieder zu nachsichtig ist, und darf dann an der örtlichen Fachhochschule das Studium Generale organisieren. Damit kann er der Geschichtswissenschaft und der Universität zumindest als Privatdozent treu bleiben. „Dieses Leben ist der Preis, den man zahlt, wenn man sich nicht anpasst“, sagt er trocken.

Konstanz wird für Djindjic zum Wendepunkt

Es ist das Jahr 1977, als Djindjic mit einem Mal in Konstanz auftaucht. Ein Doktorand der Philosophie und „quasi mittellos“, wie sich Köhler erinnert. „Ich wusste nie, wie er seinen Lebensunterhalt verdient.“ Er sieht gut aus, ist charmant, witzig und rhetorisch beschlagen. Köhler lernt ihn im Haus von Ivan Glaser kennen. Der Kroate, Jurist und Sprachwissenschaftler, wohnt für wenig Geld allein in einer großen Villa in der Alpenstraße 4 zur Miete und hat Djindjic bei sich aufgenommen. Bei Ivo treffen sie sich oft. Sie diskutieren, trinken und grillen endlos im großzügigen Garten.

Zu der Gruppe gehören der Ernst, der Mike und der Dragan und weitere Linksintellektuelle. Und mitten drin immer der Zoran. Tagsüber sitzt er in der Villa oder im Garten, abends taucht er ein in das Konstanzer Studentenleben. Er liest sehr viel, kann aber auch alles stehen und liegen lassen, um in die Kneipe zu gehen. So einem fliegen die Frauenherzen zu. „Er hatte viele Bekanntschaften“, sagt Köhler. „Eigentlich war er eher ein Stiller damals“, meint hingegen Mike Roth, der eigentlich Michael und mit dem ersten Vornamen Volkbert heißt. Nachdem der Reformmarxist für ein Jahr eine Dozentur in Sydney annahm, nennt er sich Mike. Das verstehen die Australier, und es passt für einen Linken.

Linke Lebenskünstler in einer großen Villa

Zeitweise wohnt Roth mit Glaser und Djindjic zusammen in der Villa. „Aber er war nie ein enger Freund. Zoran war keiner, der Nähe wollte“, sagt er. Wie auch Köhler bleibt dem Philosophen Roth die Universitätskarriere verwehrt. Er wird Privatdozent und Sprachtherapeut an einer bekannten Konstanzer Privatklinik. Mit seiner Frau bewohnt er heute einen Teil eines landwirtschaftliches Anwesen auf der Insel Reichenau. Der 68-Jährige, der mit seinem grau-weißen Vollbart wie einer der sieben Zwerge aussieht, blickt in die milchige Vorfrühlingssonne und findet, es hätte ihn auch härter treffen können.

Dann ist da noch Dragan Mistric, ein Kroate, Philosoph und Soziologe. Er kennt Djindjic seit gemeinsamen Studententagen in Jugoslawien. Jeden Sommer treffen sich damals reformmarxistisch orientierte sogenannte Praxis-Philosophen auf der kroatischen Mittelmeerinsel Korcula zu mehrwöchigen Sommerkursen. Die Avantgarde der linken westlichen Theoretiker darf da nicht fehlen: Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Erich Fromm und Jürgen Habermas geben sich die Ehre. Begabte Studenten dürfen auch mit. So lernen sich Dragan Mistric aus Zagreb und Zoran Djindjic aus Belgrad kennen. Sie werden Freunde, der Kroate und der Serbe. Damals spielt die Herkunft noch keine Rolle.

Sein Vater war ein eigenbrötlerischer Offizier

Zoran Djindjic wird am 1. August 1952 in Bosanski Samaca in Nordbosnien als Sohn eines Artillerieoffiziers geboren. Sein Vater sei ein eigenbrötlerischer Soldat gewesen, der sich für die Einfallswinkel seiner Granaten begeistert und für Tito geschwärmt, sich aber nicht sonderlich für Politik interessiert habe, erzählte er 2001 in einem Fernsehinterview mit Franz Stark im Bayerischen Rundfunk. „Er war wohl der einzige Offizier in der jugoslawischen Armee, der aus der Partei ausgetreten war“, so Djindjic. „Er war Nichtraucher und sagte, dass er den Rauch auf den Parteiveranstaltungen nicht verträgt.“ In Wahrheit habe aber seine Mutter dahinter gesteckt, die sehr sparsam gewesen sei. „Mit dem Beitrag für die Partei konnte sie ein Prozent seines Lohns einsparen.“

Als Zoran 16 Jahre alt ist, wird sein Vater nach Belgrad versetzt. Der Sohn macht Abitur und beginnt das Studium der Philosophie. Als er Ende der 70er nach Deutschland geht, will er sein Leben in Jugoslawien für immer hinter sich lassen. In Belgrad hat er sein Studium beendet. Er gilt als Dissident und steht quasi unter Berufsverbot, weil er als junger Mann schon politisch rebelliert hat: 1974 hatte er zusammen mit Kommilitonen aus Ljubljana und Zagreb eine nicht kommunistische Studentengruppe gegründet, was ihm ein Jahr Gefängnis einbrachte. Weil Heinrich Böll und Willy Brandt protestierten, mussten sie nur zwei Monate absitzen und durften ihr Studium wieder aufnehmen.

Die Begegnung mit Habermas ändert sein Schicksal

In Belgrad begegnet ihm Jürgen Habermas auf der Straße. Djindjic erzählt ihm sein Schicksal, und Habermas lädt ihn ein, nach Deutschland zu kommen. Dort will er sehen, was er für den jungen Mann tun kann. Habermas schickt Djindjic schließlich nach Konstanz an den Bodensee. Für den jungen Akademiker ist Deutschland das „Land der Philosophie“. Das Reich von Kant, Hegel, Heidegger. Dort, so glaubt er, hat jeder Bürger mindestens zwanzig Bände Hegel im Regal stehen. Horkheimer, Adorno, Habermas sind seine Leuchtsterne. Die Vertreter der Kritischen Theorie, der so genannten Frankfurter Schule, verehrt er. Deutsch hat er sich selbst beim Studium von Kant beigebracht, doch sprechen kann er es nicht.

So hat Zoran Djindjic in Konstanz alles bei der Hand, um effizient seinen Abschluss zu machen. Es ist kaum ein Jahr vergangen, da legt er zum Erstaunen seines Doktorvaters bereits sein Werk vor. „Marx’ kritische Gesellschaftstheorie und das Problem der Begründung“ lautet der Titel. Eine 182-seitige Abrechnung mit der Ideologie, die den Sozialismus begründete. Zu Beginn der Doktorarbeit habe er eine andere Einstellung gehabt als am Ende, bekannte Zoran Djindjic. Mike Roth ist sein Zweitgutachter, der Djindjic’ Fundamentalkritik bis heute nicht teilen kann.

Die linken Theorien haben für den Pragmatiker ausgedient

Zoran Djindjic hat später erklärt, die Zeit in Deutschland habe seinem Leben „eine absolute Wende“ gegeben. Er wendet sich ab von den linken Theorien, die er als naiv betrachtet, und entdeckt konservative Denker wie Fränkel, Husserl und Heidegger. Mehr und mehr wandelt er sich zum Pragmatiker, wird konservativer und skeptisch allen Theorien gegenüber. Weil er sich aus dem Bürgerkrieg heraushält und nach Montenegro zurückzieht, sich jedoch mit Kriegsverbrechern wie dem bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic und dem Ultranationalisten Vojislav Seselj trifft, um Koalitionen gegen den Diktator Milosevic auszuloten, stößt er auf Unverständnis. Die „Süddeutsche Zeitung“ merkt an, Djindjic betreibe seinen Pragmatismus „mit der Rigorosität des Konvertiten“.

Das Ziel jenseits der Ideologien aber heißt für ihn Realpolitik. Er schreibt das viel beachtete Buch „Jugoslawien als unvollendeter Staat“, in dem er das zerfallende Gemeinwesen dem komplexen westlichen Modell eines Rechtsstaates gegenüberstellt, das er in Deutschland schätzen gelernt hat. So etwas will er auch in Serbien schaffen. Sein Land nach Europa zu führen – das ist sein großes Ziel.

1990 gründet er die Demokratische Partei mit, 1997 wird er für kurze Zeit Bürgermeister von Belgrad, bevor ihn die alten Kräfte wieder absetzen. Nach dem Sturz von Milosevic gewinnt das demokratische Bündnis die Wahl, 2001 wird Zoran Djindjic zum ersten demokratischen Ministerpräsidenten Serbiens ernannt. Die Grundlagen für das höchste Amt hat er in Deutschland gelegt. Ohne Konstanz wäre das alles nicht möglich gewesen.