Aus Verzweiflung stürzten sich am 11. September Dutzende Menschen aus dem World Trade Center. Die Fotos davon werden kontrovers diskutiert.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

New York - Er scheint kopfüber in der Luft zu stehen. Ein Bein hält er angewinkelt wie ein Tänzer bei einer Pirouette, er strauchelt und zappelt nicht. Dass er zehn Sekunden lang fällt, am Ende eine Geschwindigkeit von bis zu 240 Stundenkilometern erreicht und beim Aufprall unmittelbar stirbt - all das sieht man in der Fotografie "Falling Man" nicht.

 

Aufgenommen wurde das Bild von Richard Drew, einem Fotografen der Agentur Associated Press, am World Trade Center in New York am 11. September 2001 nach dem Aufprall eines der Flugzeuge. Am Tag darauf ist es in vielen Tageszeitungen der USA erschienen, um danach in einem beispiellosen Akt der Selbstzensur in den meisten Printmedien der Vereinigten Staaten nie wieder abgedruckt zu werden.

Aufnahmen von Menschen, die an diesem Tag aus den Twin Towers sprangen, gibt es etliche - und genauso zahlreich sind die Beschwerden von Medienvertretern und Politikern, welche die Bilder und Filme als zu "verstörend" bezeichneten und dazu aufforderten, sie aus den Medien zu verbannen. Der "Falling Man" von Richard Drew sticht vor allem wegen einer irritierenden Ästhetik aus der Masse der Bilder heraus. Die Körperhaltung des Abgebildeten ist seltsam symmetrisch, der Kontext ausgeblendet, von den brennenden Türmen sieht man nichts. Wissenschaftler bezeichneten die Aufnahme als erste ästhetische Verarbeitung der Ereignisse vom 11. September überhaupt, als "art shot".

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Zwischen Leben und Tod

Rund 200 Menschen sprangen am 11. September 2001 aus dem World Trade Center. Es ist unklar, ob manche von Druckwellen aus den oberen Stockwerken der Gebäude gepresst wurden oder ob die Hitze dort, wo die Fluchtwege abgeschnitten waren, so groß war, dass sich einige dazu entschlossen, in den schnellen Tod zu springen.

Die Bilder dieser Fallenden zeigen etwas, das sonst selten im Bild sichtbar wird: den Moment des Übergangs zwischen Leben und Tod. Ähnliche Aufnahmen gibt es aus der Kriegsberichterstattung, wie etwa den "Falling Soldier", das Bild eines sterbenden Soldaten aus dem Spanischen Bürgerkrieg von Robert Capa. Oder die Aufnahme der Hinrichtung des Vietcong Nguyen Van Lem, dem im Vietnamkrieg eine Pistole an den Kopf gehalten wird.

Auffallend ist, dass die Bilder der "Falling Men" - obwohl sie aus der Berichterstattung der amerikanischen Medien verschwunden sind - immer öfter von Kunst, Literatur und Film aufgegriffen wurden, wie etwa in Jonathan Safran Foers Roman "Extremely loud and incredibly close" oder auch im Film "Man on Wire" über den Seiltänzer Philippe Petit, der in den siebziger Jahren zwischen den Dächern der damals neu erbauten Twin Towers balancierte.

Dokumentarfilmer und Zeitungsjournalisten versuchten herauszufinden, wer der Mann im Bild von Richard Drew gewesen war, doch niemand konnte die Identität des Fallenden mit Sicherheit bestimmen. Er bleibt der "unbekannte Soldat" des 11. September.