Gera ist ein Absteiger in Ostdeutschland. Die Stadt hat seit der Wende ein Drittel der Einwohner verloren, elf Prozent der Wohnungen stehen leer. Aber die „Gerschen“, wie die Bewohner sich nennen haben Stolz, Witz und Würde bewahrt.

Gera - Die Krise ist seit Langem da, das wissen alle in der   Stadt. Unweit vom schmuck sanierten Marktplatz liegt ein 50-Cent-Laden, da gibt es Plüschpantoffel, Haushaltswaren und Kitschpostkarten. Sie habe vor 13 Jahren eröffnet, sagt die Besitzerin und ist stolz, dass sich ihr Geschäft so lange hält. Natürlich hätten die Leute wenig Geld. „Wir hatten in Gera zu DDR-Zeiten Maschinenbau, Textilindustrie und den Uranbergbau der Wismut. Das ist alles weg.“ Sie ärgere sich noch über einen Bericht im „Focus“, in dem ihr Laden abgelichtet worden war und der mit der Zeile erschien: „In Gera schießen Ramschläden wie Pilze aus dem Boden.“ Der Fotograf habe sie nicht gefragt, sagt die Ladeninhaberin, das sei nicht okay.

 

Gera ist ein Absteiger in Ostdeutschland. Aber die „Gerschen“, wie die Bewohner sich nennen – über „Geraer“ würde wohl die Zunge stolpern –, haben Stolz, Witz und Würde bewahrt. Die Stadt in Ostthüringen zählte bis in die 40er Jahre hinein zu den zehn reichsten Städten Deutschlands, sie war in DDR-Zeiten eine Bezirksstadt. Sie war eine Großstadt mit 135 000 Einwohnern, verlor aber den Status nach der Wiedervereinigung, weil sie massiv an Einwohnern verloren hat: Heute sind es 90 000 Menschen, die hier leben – ein Verlust von einem Drittel. Die Jungen wanderten ab. Als erste Kommune Deutschlands musste Gera 2014 die Insolvenz seiner Stadtwerke anmelden – noch eine negative Schlagzeile. Im prosperierenden Thüringen trägt die Stadt mit einer Arbeitslosigkeit von rund zwölf Prozent die rote Laterne. Man hat keine Universität und keinen elektrifizierten Bahnanschluss, auch so ein Manko.

Soll man die Tiere aus dem Zoo verkaufen?

Im Stadtbild sieht man Villen mit bröckelnder Fassade, und in bester Citylage stehen ein paar Läden leer, und Gassen sind holprig wie ein Wiesenweg. Wegen der knappen Haushaltskasse erwog die parteilose Bürgermeisterin Viola Hahn einmal im öffentlichen Diskurs, ob man nicht die Tiere aus dem kleinen, 1962 gegründeten Zoo verkaufen könne – aber das war sarkastisch gemeint. Der Verkauf von Wildgulasch werde Gera nicht retten, sagt der städtische Pressesprecher Uwe Müller: „Aber wissen Sie: der Gersch war schon immer für gutes Essen und Trinken, das hält Leib und Seele zusammen.“ Deshalb habe die Stadt auch die Figur des Fettguschl, ein fröhliches Kerlchen mit runden Backen und einem Vogel auf dem Hut.

Die Stadt Gera ist nicht mehr „top“ wie in alten Zeiten, aber sie liegt auch nicht darnieder. Wer durch die Straßen läuft, sieht Schilder mit Altgold-Ankauf, Secondhand-Läden und Buden mit Döner für 1,99. Oder er kehrt ein beim „Gastronom“ und bestellt Milchreis für 2,80 Euro. Tristesse jedoch ist nicht spürbar. Die Innenstadt, aber auch die Trabantensiedlungen am Stadtrand haben neue Einkaufszentren. Dicht am historischen Stadtkern liegen die „Gera-Arkaden“ – eine der üblichen, uniformen Shoppingmalls der deutschen Städte.

Ein Geschäftsmann ärgert sich über die unkritische Presse

Auf dem Weg ins Rathaus eine Zufallsbegegnung mit Alexander H., Geschäftsführer eines Unternehmens, gekleidet in Anzugblau: „So, so. Sie wollen uns als Verlierer porträtieren“, sagt H. Er selbst kennt die Schattenseiten von Gera. Am meisten ärgere ihn die unkritische Lokalpresse, gerade habe er deshalb sein Abo gekündigt. Gefragt nach den „blühenden Landschaften“, die Kanzler Helmut Kohl einst versprochen hat, sagt H., dass dies ja eine Metapher gewesen sei, aber die sei für Gera durchaus zutreffend: „Zumindest die Infrastruktur stimmt hier. Aber fahren Sie mal über Eisleben nach Magdeburg. Da denken Sie, die Zeit ist stehen geblieben.“

Die Bürgermeisterin Hahn ist promovierte Ökonomin, 59, und für den Termin mit der Presse hat sie ihren Urlaub unterbrochen und Kuchen mitgebracht. Ein Problem für Gera sei der Imageschaden durch die Pleite der Stadtwerke, sagt Hahn. Dabei spüre „Otto Normalverbraucher“ kaum etwas von der Insolvenz. Die Straßenbahnen haben den Takt von drei auf sieben Minuten verändert – aber das Einzelticket kostet noch 1,90 Euro. Die Museen haben wegen der miesen Kassenlage der Stadt nur von Mittwoch bis Sonntag geöffnet, und im schönen historischen Dahliengarten von Gera stehen Spendenkästen in Form von Gießkannen: Der Computertreff Gera hat die Pflege übernommen, die Stadt schickt keine Gärtner mehr. Doch das Fünf-Sparten-Theater – das einzige in Thüringen – ist noch im Betrieb. Die Gewerbesteuereinkünfte von Gera betragen 22 Millionen Euro, ein Drittel dessen, was die ähnlich große Stadt Esslingen erhält.

Elf Prozent der Wohnungen stehen leer

„Wir sind stolz und froh darüber, was wir haben“, sagt Viola Hahn. Und die „weichen Standortfaktoren“ seien ganz gut: Autobahnanschluss, historische Bausubstanz am idyllischen Tal der Weißen Elster und nur 35 Kilometer bis zur boomenden Universitätsstadt Jena. Überhaupt Jena – der Konkurrent, der Gera überflügelt hat. Der Schwabe Lothar Späth habe da bei der Weltfirma Carl Zeiss wirklich „gewirbelt“, sagt Viola Hahn. Die traditionsreiche Universitätsstadt habe einen Wohnungsleerstand von 0,5 Prozent. Gera hingegen mit seinen großen Plattenbausiedlungen Bielach und Lusan hat einen Leerstand von elf Prozent – doch vor zehn Jahren war er mehr als doppelt so hoch. Wohnungen werden für vier Euro Warmmiete pro Quadratmeter angeboten, und die Stadt hofft, Pendler aus Jena zu gewinnen.

Denn Charme hat die Stadt, und die Trendwende scheint eingeleitet. Es gebe wieder junge Familien, die nach Gera zögen, man habe ein Zuwanderungsplus. Sichtbar sei der Wandel am früheren Armeleuteviertel Untermhaus, wo das Geburtshaus von Otto Dix steht, aber wo früher keiner wohnen wollte: „Jetzt ist das Viertel neu angesagt, da ziehen Leute hin und sanieren die alten Häuser mit Liebe zum Detail“, sagt Hahn. Mittelständische Unternehmer zieht es auch nach Gera, der größte Arbeitgeber aber ist das Klinikum mit 1700 Jobs, das zur Heidelberger SRH-Stiftung gehört. Vielleicht avanciert Gera zum Geheimtipp für Investoren. Hahn sagt, es sei eine dringende Aufgabe für die Stadt, jetzt Gewerbegebiete mit sechs Hektar zu entwickeln, die fehlten Gera. Mit Bildung und Weltoffenheit will Gera punkten, dabei liegt die Ausländerquote bei zwei Prozent und ein italienischer und ein österreichischer Firmenzuzug gelten als Beleg für Internationalität.

Mancher schwärmt noch von der DDR

Am Ende eine Begegnung mit der Historie, ein Ausflug nach Lusan, wo ein Plattenbau mal für seine vorbildliche Sanierung einen Preis gewonnen hat. Heute sprießt Unkraut zwischen den Hochhäusern, im Schreibwarenladen steht Frau Müller, Jahrgang 1955, und schwärmt von der DDR. „Da mussten wir anstehen für Bananen, aber da gab es einen Zusammenhalt.“ Der sei weg. „Der Helmut Kohl hat uns verkauft für ’nen Appel und ’nen Ei.“ Sie habe heute die Freiheit zu reisen, aber nicht das Geld dafür. So gehe es vielen Rentnern. Auch in der Siedlung hängen Plakate mit dem Hinweis aufs Höhler-Fest: Da feiern die Gerschen drei Tage lang, und die Stadt ist rappelvoll.