Der Neuanfang nach der Wende war hart, aber nun erlebt das Ostseebad Binz auf Rügen einen gewaltigen Boom. Im Sommer ist der Ort ausgebucht, Baugrundstücke sind Fehlanzeige. Aber das Wachstum macht der Gemeinde auch Schwierigkeiten.

Berlin - Hier wollen im Sommer alle hin: Fünf Kilometer lang streckt sich in einem sanften Bogen der helle Sandstrand vor dem Seebad Binz, ruhig und sehr blau liegt die Ostsee im gleißenden Sonnenlicht, und ihr sanfter Wellensaum glitzert wie der ziselierte Rand eines alten Silbertabletts. Hinter den Dünen liegen wie eine Kette stattlicher Zuchtperlen die allen Bädervillen der Jahrhundertwende. Im Sommer herrscht hier Massenandrang. Menschen bauen Windmuscheln auf, rennen in die Brandung hinein, blasen Luft in quietschfarbene Schwimmtiere, spielen Beachball, es riecht nach Sonnenmilch und Backfischfett. Abends geht es in Dreierreihen zum Schaulaufen einmal hin und einmal her über die Strandpromenade, vorbei an Hotels, Restaurants, Apartmenthäusern, Galerien. Speisekarten studieren, vermeintliche Bernsteinschnäppchen ergattern, die Nase an der äußersten Spitze der Seebrücke in den Abendwind halten, was Feines essen.

 

Die Hotels sind ausgebucht, auch in den insgesamt zehn Vier- und Fünf-Sterne-Häusern in der ersten Reihe. Die Preise erreichen teilweise Sylt-Niveau, nicht nur für Zimmer, auch für Garnelenspieße mit Kräutertunke.

Obwohl die Lage des Seebads strategisch eigentlich recht ungünstig am östlichen Ende der Insel liegt und jeder Hamburger oder Berliner, wenn er stattdessen auf dem Darß bliebe, locker zwei Stunden Stop-and-go-Verkehr sparen würde, wollen alle hierher. Im Sommer hat Binz mehr als viermal so viele Bewohner wie im Winter – 14 500 offiziell registrierte Gästebetten zählt die Gemeinde mit ihren 5600 Einwohnern. Tendenz: steigend. Im Winter sieht das anders aus. Da steigt nur eines: die Arbeitslosigkeit.

Das Seebad wird zum „Premium-Ort“ umgebaut

Das schönste und bekannteste Seebad auf der Insel Rügen boomt. Es boomt so sehr, dass diejenigen, die damit umgehen können und müssen, es manchmal auch ein bisschen mit der Angst bekommen. Weil dort, wo fette Beute wartet, auch immer große Tiere unterwegs sind, und weil die sich in der Regel wenig drum scheren, was aus den Kleinlebewesen wird, die immer schon da waren. Im Seebad gerate alles aus den Fugen, konstatierte neulich der Norddeutsche Rundfunk in einer langen Reportage. Titel: Armenhaus Rügen.

Und in der Tat, das Gefälle ist gewaltig. „Binz war schon immer ein Premium-Urlaubsort. Wenn man hier zu DDR-Zeiten ein Quartier bekam, war das wie ein Sechser im Lotto mit Zusatzzahl“, sagt Karsten Schneider. „Und alles, was wir als Gemeinde in den vergangenen Jahren investiert haben, haben wir auch in den Premium-Ort investiert.“

Aber die Bürger der Gemeinde profitieren davon nur in Maßen. Die Mehrzahl arbeitet nur in der Saison und hat ein Durchschnittsjahreseinkommen von um die 15 000 Euro. Wohnraum ist knapp – bezahlbarer sowieso. Die Arbeitslosigkeit im Winter liegt bei um die 18 Prozent. Viele Insulaner haben ihre Heimat verlassen, zu teuer, zu wenig Perspektive.

Quadratmeterpreise bis 10.000 Euro

Schneider ist seit 2011 Bürgermeister hier, er stammt aus Brandenburg und war viele Jahre Lehrer auf der Insel. Eine Zeit lang beobachtete er den Wandel, der immer rasanter wurde. Und dann dachte er, man müsse das doch eigentlich mitgestalten. Er fand sich wieder als kommunaler David. „Ich sitze den größten Investoren der Republik gegenüber“, sagt Schneider.

In seiner Gemeinde wimmelt es von Bauschildern, alte Häuser werden abgerissen. „In der ersten Reihe liegen die  Quadratmeterpreise bei 7000 bis 10 000 Euro. Wobei: es gibt einfach keine Grundstücke mehr.“ Natürlich gibt es einen Bebauungsplan, und natürlich gibt es Regeln. Aber trotzdem entwickelt sich nicht alles, wie es gut wäre für Binz. Die Immobilienprofis, mit denen er es zu tun hat, haben Spezialisten, die jede Lücke in den Vorschriften suchen und nutzen. Häuser werden größer als gedacht, Vorgaben unterlaufen. „Es gibt Entwickler, die muss man schon als  Heuschrecken bezeichnen“, sagt Schneider. „Die kaufen, bauen, verkaufen und hauen ab – es ist ihnen völlig egal, was aus dem Haus, aus der Gemeinde wird.“ In 80 Prozent der Fälle könne man rechtlich gar nichts tun, sagt er. „Aber in 20 Prozent der Fälle wäre das eventuell möglich – und wir als Gemeinde können diese Möglichkeit nicht ausnutzen, weil uns dazu die Kapazitäten fehlen.“

Denn Schneider geht es mit seiner Gemeindeverwaltung nicht anders als den Hoteliers mit ihren Köchen und Zimmermädchen und den Handwerkern mit ihren Auszubildenden. Es findet sich niemand. Der Bürgermeister will nicht zu viel jammern. Schließlich ist das Wachstum ja vor allem etwas Gutes – die Frage ist nur, wie gestaltet man den Wandel so mit, dass auch in 20 Jahren noch Menschen nach Binz kommen wollen.

Nicht weit entfernt liegt Prora – die Monsterruine

Das größte aller Fragezeichen misst viereinhalb Kilometer und liegt westlich des Binzer Ortskerns am Sandstrand: Prora, der gigantische Gebäuderiegel, den die Nazis für ihre Ferienorganisation „Kraft durch Freude“ bauten und der jetzt – 25 Jahre nach der Wende – von einer denkmalgeschützten Monsterruine zum größten Spekulationsobjekt der Republik geworden ist. In den vom Bund verkauften Blöcken bauen Investoren jetzt Hotels, Apartments, Eigentumswohnungen in erster Reihe. Eine Herkulesaufgabe. Die Gemeinde wird sich verdoppeln. „So etwas ist weltweit noch nicht gemacht worden“, sagt Schneider. Er sieht eine riesige Chance. Vielleicht. Vorhersagen kann das niemand.

Im Moment geht es darum, das Naheliegende zu tun. So gut auf die Natur aufzupassen, wie es geht. Eine Möglichkeit finden, die Saison in den Herbst und Frühling hinein zu verlängern. Wanderwochen erfinden, ein Poloturnier ausprobieren. Und auf die Magie dieses Ortes vertrauen, den sie hier vor 100 Jahren „Nizza des Ostens“ getauft haben. In aller Bescheidenheit.