Der Alltag in der DDR war oft abenteuerlich. Das begann schon beim Wohnen, erinnert sich Alexandra Kratz:

 

„Die erste Wohnung meiner Eltern war in der Erfurter Triftstraße. Wenn mein Vater heute davon erzählt, kann er lachen. Doch damals war es ernst. Das Wohnzimmer war ein Würfel von ziemlich genau drei mal drei mal drei Metern. Die Temperaturunterschiede zwischen Fußboden und Decke waren enorm. Es war schon fast sinnbildhaft für die DDR, dass man immer kalte Füße und einen überhitzten Kopf hatte. Im Winter hatten wir Eisblumen an den Scheiben, von innen und außen. Das Kinderbett meiner älteren Schwester stand direkt neben dem Kühlschrank. Woanders war kein Platz.

Als ich 1983 auf die Welt kam, ging mein Vater zum Amt. Er wollte eine größere Wohnung, weil er nicht wusste, wo er die Wiege hinstellen sollte. Die Männer vom Amt kamen tatsächlich bei uns vorbei, den Zollstock in der Hand. Doch auch sie fanden keinen Platz. Also bekamen meine Eltern eine neue Bleibe zugesprochen. Für uns war diese ein Traum: 80 Quadratmeter und direkt am Domplatz.

Der findige DDR-Bürger mischte Sägespäne in die Farbe

In der DDR war vieles knapp, auch die Raufasertapete. Also tapezierten meine Eltern die neue Wohnung mit dem, was es zu kaufen gab. Um etwas Struktur an die Wände zu bekommen, mischte der findige DDR-Bürger Sägespäne in die Farbe. Wir wohnten ganz oben im Mehrfamilienhaus. Das Dach war undicht. Doch das war nicht schlimm. Auf dem Dachboden rollten wir alte Teppiche aus, die das Wasser aufsaugen sollten. Wann immer es regnete, lief meine Oma nach oben und rückte die Eimer zurecht, so dass der Regen vorzugsweise dort hineintropfte. Wenn alles nichts half, stellten wir auch in der Stube Schüsseln auf.

Doch eines Tages hatten wir ein richtiges Problem. Aus irgendwelchen Gründen hatten wir kein Gas mehr. Tage-, wenn nicht wochenlang haben wir ausschließlich auf dem Kohleofen gekocht und das Wasser zum Waschen warm gemacht. Dann bekamen wir von der Stadt zwei Propangasflaschen. Eine für den Herd in der Küche, eine für den Boiler im Bad. Damit arrangierten wir uns viele Monate lang, denn erst nach der Wende sollten wir wieder einen regulären Gasanschluss bekommen.“

Glaubte er selbst den öden Formeln, die er den Jugendlichen mit brüchiger Stimme zurief? Dass die SED „Partei der Neuerer, Partei der Jugend sei“? Dass sie sich noch immer in ihrem ganzen Handeln „von der unsterblichen Lehre der großen deutschen Wissenschaftler Karl Marx und Friedrich Engels“ leiten lasse? Ich wusste es nicht – und habe es nie erfahren.

Die DDR war uns nicht zuwider. Sie war uns egal.

Als Reporter des „Spiegels“ war ich 1989 zum Pfingsttreffen der FDJ gekommen. Von der DDR hatte ich keine Ahnung und hatte sie bis dahin auch nicht haben wollen. Der Osten Deutschlands war für mich und meine Freunde eine unbekannte, fremde Welt. Die DDR war uns nicht einmal zuwider. Sie war uns egal. Als Jugendliche war unser Blick nach Westen gerichtet und auf uns selbst. „Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden“ hieß ein Buch, als ich 1980 Abitur machte und kein Titel drückte unser Lebensgefühl besser aus. Die schwarz-geränderte Aussicht auf Arbeitslosigkeit, Nuklearkrieg und eine zerstörte Umwelt machte Auswandern zu einem wichtigen Thema. Allerdings wollten wir nach Neuseeland, nicht nach Neustrelitz. Nach Kanada, nicht nach Cottbus.

Wie konnte man in solchen Zeiten als Jugendlicher in halogen-blauer Einheitskluft herumlaufen, „Es lebe die DDR!“ schreien und einer Garde von Politik-Greisen huldigen? „FDJler in den Wald, macht den Borkenkäfer kalt!“, hieß es auf einem Spruchband, das zwei Jugendliche hochhielten. War das Ironie, kunstvoll verdichtete Satire? Oder war diese Staatsjugend der DDR so tumb wie ihre Sprüche?

Als machtvolles „Bekenntnis der DDR-Jugend zu Frieden und Sozialmus“ wollten die FDJ-Offiziellen ihr Pfingsttreffen verkaufen. Die Jugendlichen, das wurde jedoch schnell klar, wollten vor allem Spaß. Sie hatten einen kühlen Deal mit dem Staat gemacht. Sollten sich die Funktionäre mit den inszenierten Treuebekundungen ruhig selbst blenden. Solange sie dafür alle ordentlichen Rockbands der Republik in Ostberlin auftreten ließen, ging das für die meisten in Ordnung: Gleich nach dem Marsch über die Karl-Marx-Allee flogen die Transparente in Müllcontainer, schlüpften die Kids aus ihrer FDJ-Kluft und zogen sich T-Shirts, Jeans- und Lederjacken an. Die besten Bands spielten rund um den Alexanderplatz, die Jugend tanzte. Selbst die alternative Szene war dabei: als die „Skeptiker“, eine der erfolgreichsten „anderen Bands“ der DDR, rockte, war die Allee Unter den Linden übersät mit Punks. (Ich hatte bis dahin nicht einmal gewusst, dass es Punks in der DDR gab.) Ein fröhliches Fest. Brot und Spiele für viele, die ihre Alltagstristesse vergessen wollten. Kleine Fluchten.

Noch schien die Doppelstrategie der FDJ mit neuer Musik und alten Sprüchen aufzugehen. Die Jugendlichen rebellierten nicht gegen den Schwachsinn der Funktionäre, sondern hörten einfach weg. Aber in ihrer eigenen Gedankenwelt schienen viele von ihnen längst in ein anderes Land ausgewandert zu sein. Eine Generation in Wartestellung. „Irgendwann“, sagte damals ein 15-jähriger Schüler aus Berlin-Pankow, „muss sich doch etwas ändern.“ Fünf Monate später war der Weg frei, implodierte das DDR-Regime.“

Rainer Pörtner. Foto: Achim Zweygarth

Rainer Pörtner (53), geboren in Niedersachsen, war von 1990 bis 1991 Korrespondent des „Spiegel“ in Ostberlin.

Noch blieb das Volk auf Distanz

Im Frühjahr 1989 hatte die Stasi die Proteste in Leipzig noch unter Kontrolle, schildert Michael Heller:

„Im Vorfeld hat nichts auf das Requiem für die Leipziger Frühjahrsmesse im März 1989 hingedeutet. Im Gegenteil, meine Redaktion schickte mich nach Leipzig, um über ein besonderes Ereignis zu berichten: den Besuch von SED-Chef Erich Honecker am Stand der Ditzinger Maschinenfabrik Trumpf – eine Auszeichnung für den Mittelständler. Der Besuch fand unter dramatischen Umständen statt. Weil an der Mauer kurz nach einem tödlichen Fluchtversuch schon wieder geschossen worden war, boykottierte die westdeutsche Politik den Besuch. Erich Honecker, Ministerpräsident Willi Stoph, Politbüromitglied Günter Mittag und die anderen: noch heute sehe ich das Bild dieser alten Männer mit ihren kalkweißen und starren Gesichtern vor mir, wie sie Robotern gleich auf den Trumpf-Stand zumarschieren. Gruselig.

Untergebracht war ich privat in der Leipziger Plattenbausiedlung Grünau. Da wurde offen über die Lage in der DDR gesprochen und über Versorgungsmängel geschimpft, was mir aber allzu bekannt vorkam. Nichts anderes hatten die eigenen Verwandten in Chemnitz, das damals Karl-Marx-Stadt hieß, berichtet. Das revolutionäre Potenzial dieser Umstände, das sich dann innerhalb eines halben Jahres entfaltete, ist im Frühjahr 1989 noch nicht zu spüren gewesen. Natürlich hatte sich da in jüngerer Zeit etwas verändert. Schon lange gab es montags die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche, die etwa ab 1988 zunehmend zum Treffpunkt von Ausreisewilligen wurden.

„Wenn’s euch hier nicht passt, dann geht doch rüber!“

Am 13. März, einen Tag nach dem Honecker-Besuch bei Trumpf, wagten sich wieder ein paar Hundert Demonstranten mutig auf die Straße. Aber zwischen den Ausreisewilligen („Wir wollen raus, wir wollen raus“) und der Bevölkerung rund um die Nikolaikirche gab es eine große Distanz, die mich stark an manche Demonstration von Linken im Westen erinnerte; Standardkommentar des Publikums: „Wenn’s euch hier nicht passt, dann geht doch rüber!“ Zwar gab es auch einzelne aufmunternde Kommentare, aber überwiegend schauten die Menschen stumm und neugierig, oder sie hasteten betont geschäftig weiter.

Eine verständliche Haltung, wie sich schnell zeigte. Unter die Schaulustigen hatten sich Stasimänner in Zivil gemischt, die plötzlich wie auf Kommando Schlagstöcke aus Plastiktüten hervorholten und mit brutaler Gewalt auf die Männer, Frauen und Kinder, die sich an den Händen hielten, einschlugen. Das sprengte die Menschenkette. Die Volkspolizei verhaftete einige Demonstranten, dann zog sich die Stasi wieder zurück. Sogar der Protestzug konnte bis zum Marktplatz fortgesetzt werden – wahrscheinlich wegen der Anwesenheit des Westfernsehens –, wo er sich aber rasch auflöste, als ein Regenschauer einsetzte. Die Staatsmacht, so schien es, hatte letztlich doch alles im Griff. Welch ein Irrtum.“

Michael Heller. Foto: Achim Zweygarth

Michael Heller (59), geboren in Baden-Württemberg, war 1989 Wirtschaftsredakteur der „Stuttgarter Nachrichten“.

Gorbi-Anstecker und Akte von Rowdytum

Anfang Oktober 1989 wehte im Erzgebirge kaum ein Hauch von Revolution, schreibt Julia Schröder:

„Wer in den achtziger Jahren in der Bundeshauptstadt Bonn studierte, bekam in der Regel nicht nur wenig vom Politikbetrieb mit, sondern hatte auch kein großes Bedürfnis, die DDR von innen zu sehen. Bei mir war das anders, bei meiner Studienfreundin auch – aus unterschiedlichen Gründen: Ich hatte jede Menge Verwandtschaft „drüben“, was seit früher Kindheit regelmäßige Besuche im Osterzgebirge zur Folge hatte, und ihr reichten die üblichen studentischen Touren nach Prag und Budapest, wo man mit wenig Westgeld viel reißen konnte, nicht. Also brachen wir auf, sie, ihr Freund und ich, im Golf, um – auf „Einladung“, versteht sich – eine Woche im Dorf meiner Großeltern zuzubringen und das echte DDR-Leben abseits von Ostberlin zu teilen. Es war Anfang Oktober 1989 und schon sehr kalt.

Was uns empfing, waren die selbst gemachte Leberwurst meiner Großeltern, der gewohnte Geruch des Plumpsklos und meine halbwüchsige Cousine, die einen Michail-Gorbatschow-Anstecker trug. Das war in diesen Tagen mutig, denn das Bildnis des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) am Körper zu führen galt dem Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) als Zeichen konterrevolutionärer Umtriebe. Tatsächlich war es der einige Monate zuvor in Bonn (!) umjubelte Perestroika-„Gorbi“, welcher am 7. Oktober beim Besuch zum Vierzig-Jahr-Jubiläum des sozialistischen Bruderstaats kurz nach unserer Ankunft den alten Herren an der SED-Spitze öffentlich den Rat gab, keine Angst vor Veränderung zu haben.

Die angespannte Lage hielt tagelang an

Was uns zudem empfing, war das Gerücht, der Dresdner Hauptbahnhof liege praktisch in Trümmern. In der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober war ein Zug von Prag her mit Botschaftsflüchtlingen durchgefahren, Dresdner hatten demonstriert, die Volkspolizei Wasserwerfer eingesetzt, Steine waren geflogen, Scheiben zu Bruch gegangen. Die angespannte Lage hielt tagelang an. Beim Tagesausflug nach Dresden merkten wir davon nichts. Meine Freunde bestaunten die Trümmer der Frauenkirche, die Konsistenz des Würzfleischs und die Auswahl in den Antiquariaten.

Meine Großeltern, als unheilbare Skeptiker aus dem Dritten Reich hervorgegangenen und von der DDR unbegeistert, lasen statt des „Neuen Deutschland“ die in Dresden erscheinende Zeitung der Blockpartei CDU, „Die Union“. Diese vermeldete Akte staatsfeindlichen Rowdytums. Kurz darauf war „Die Union“ das erste Medium in der DDR, das sich für Reformen aussprach und kritische Leserbriefe abdruckte. Da waren wir schon wieder zurück am Rhein.“

Julia Schröder. Foto: Achim Zweygarth

Julia Schröder (51), geboren im Rheinland, schloss 1989 ihr Studium ab und begann ihr journalistisches Volontariat.

Ein überhitzter Kopf und kalte Füße

Der Alltag in der DDR war oft abenteuerlich. Das begann schon beim Wohnen, erinnert sich Alexandra Kratz:

„Die erste Wohnung meiner Eltern war in der Erfurter Triftstraße. Wenn mein Vater heute davon erzählt, kann er lachen. Doch damals war es ernst. Das Wohnzimmer war ein Würfel von ziemlich genau drei mal drei mal drei Metern. Die Temperaturunterschiede zwischen Fußboden und Decke waren enorm. Es war schon fast sinnbildhaft für die DDR, dass man immer kalte Füße und einen überhitzten Kopf hatte. Im Winter hatten wir Eisblumen an den Scheiben, von innen und außen. Das Kinderbett meiner älteren Schwester stand direkt neben dem Kühlschrank. Woanders war kein Platz.

Als ich 1983 auf die Welt kam, ging mein Vater zum Amt. Er wollte eine größere Wohnung, weil er nicht wusste, wo er die Wiege hinstellen sollte. Die Männer vom Amt kamen tatsächlich bei uns vorbei, den Zollstock in der Hand. Doch auch sie fanden keinen Platz. Also bekamen meine Eltern eine neue Bleibe zugesprochen. Für uns war diese ein Traum: 80 Quadratmeter und direkt am Domplatz.

Der findige DDR-Bürger mischte Sägespäne in die Farbe

In der DDR war vieles knapp, auch die Raufasertapete. Also tapezierten meine Eltern die neue Wohnung mit dem, was es zu kaufen gab. Um etwas Struktur an die Wände zu bekommen, mischte der findige DDR-Bürger Sägespäne in die Farbe. Wir wohnten ganz oben im Mehrfamilienhaus. Das Dach war undicht. Doch das war nicht schlimm. Auf dem Dachboden rollten wir alte Teppiche aus, die das Wasser aufsaugen sollten. Wann immer es regnete, lief meine Oma nach oben und rückte die Eimer zurecht, so dass der Regen vorzugsweise dort hineintropfte. Wenn alles nichts half, stellten wir auch in der Stube Schüsseln auf.

Doch eines Tages hatten wir ein richtiges Problem. Aus irgendwelchen Gründen hatten wir kein Gas mehr. Tage-, wenn nicht wochenlang haben wir ausschließlich auf dem Kohleofen gekocht und das Wasser zum Waschen warm gemacht. Dann bekamen wir von der Stadt zwei Propangasflaschen. Eine für den Herd in der Küche, eine für den Boiler im Bad. Damit arrangierten wir uns viele Monate lang, denn erst nach der Wende sollten wir wieder einen regulären Gasanschluss bekommen.“

Alexandra Kratz (31), geboren und aufgewachsen in Thüringen, erlebte die DDR sechs Jahre lang hautnah mit.