Der Historiker Heinrich August Winkler arbeitet an einem gewaltigen Projekt, einer „Geschichte des Westens“. Jetzt ist der dritte und vorletzte Band erschienen. Er umfasst die Zeit von 1945 bis zur Auflösung des Ostblocks.

Stuttgart - Von Papst Franziskus stammt der Satz: „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee.“ Blickt man auf Heinrich August Winklers gewaltiges Projekt, eine „Geschichte des Westens“ zu schreiben, kann das Wort in seiner Umkehrung gelten. Nicht dass Winkler in den bisher erschienenen Bänden die Wirklichkeit vernachlässigte, sie enthalten eine fast erdrückende Fülle an Stoff, im Zentrum seiner Arbeit steht die Idee, die den Westen ausmacht: das ist die Aufklärung, die Französische Revolution von 1789 sowie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776. Das Ganze gipfelt in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948.

 

Für Winkler ist der Westen kein begrenzter Raum, vielmehr lebt er von Ideen und Werten. Sie bilden den Maßstab, an dem Winkler die Geschichte misst. Der erste Band schildert die Grundlagen vom altägyptischen Monotheismus bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Der zweite Band beschäftigt sich mit den beiden Weltkriegen. Nun ist der dritte Band erschienen, der die Zeit von 1945 bis zur Auflösung des Ostblocks umfasst. Genau genommen ist es eine Geschichte des Kalten Krieges.

Das ist eine Phase, die Winkler entgegenkommt, denn nie zuvor hat sich der vom Weltkommunismus herausgeforderte Westen so einheitlich als Wertegemeinschaft dargestellt. Dieses scharf konturierte „amerikanische Jahrhundert“ endete 1989 mit einem Sieg des Westens. Das geschah weitgehend friedlich und keineswegs triumphal. Winkler geht hier auch auf die Rolle des Ostens ein als dem Gegenstück des westlichen normativen Projekts. Ein großes Lob erteilt er Michael Gorbatschow, der als Reformer zwar scheiterte, aber dann in der Überwindung der Parteidiktaturen sowjetischen Typs erfolgreich war: „Die Welt ist durch ihn eine andere, für viele eine bessere geworden. Kein anderer Staatsmann hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen derart tief greifenden Wandel bewirkt wie er. Darin liegt seine historische Größe.“

Im Kalten Krieg war sich die transatlantische Welt einig

Aber mit diesem Erfolg des liberalen Denkens kam die Geschichte keineswegs an ihr Ende, wie der amerikanische Politologe Francis Fukuyama voreilig meinte. Der Sieg provozierte Gegenreaktionen außerhalb der westlichen Welt und führte in eine Welt ohne Gleichgewicht. Diese in Unordnung geratene Welt wird denn auch das Thema des vierten Bandes sein, den Heinrich August Winkler im nächsten Jahr vorlegen will. Darin wird und muss auch der Kapitalismus eine Rolle spielen, denn schon im hier vorliegenden Buch hat Winkler angemerkt: „Die Triumphe des Kapitalismus überall auf der Welt sind noch lange keine Siege für das normative Projekt des Westens.“ Ein schlagendes Beispiel dafür ist China.

Auch wenn die transatlantische Welt sich nie so einig war wie in den Jahrzehnten des Kalten Krieges, so waren diese doch keine Idylle. Winkler misst den Westen schonungslos an seinen vom ihm selbst vorgegebenen Werten. Er schildert insbesondere das Vorgehen der Westmächte gegenüber der sich emanzipierenden „Dritten Welt“ unnachsichtig und mit Präzision. Die alten Kolonialmächte glaubten festhalten zu können, was ihnen längst entglitten war. Er beschreibt die rigiden Polizeiaktionen der Niederländer in Indonesien ebenso wie die brutalen Rückzugsgefechte der Briten aus Indien oder die Kolonialverbrechen der Franzosen in Algerien, Vietnam oder Schwarzafrika. Winkler fasst zusammen: „Ein kolonialer Notstand galt in Großbritannien nicht anders als in Frankreich als rechtsfreier Raum.“ Die Normen des Westens galten nur insoweit, wie sie in die praktische Politik passten.

Der Zusammenhalt des Westens begann zu schwinden

Die USA waren ursprünglich eine streng antikoloniale Macht, ließen sich aber im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in den Prozess der Entkolonialisierung hineinziehen. Ob in Vietnam, in Indonesien oder Angola: „Die übergeordneten Interessen des Westens und der USA im Kalten Krieg bestimmten die Position, die Amerika gegenüber antikolonialen Bewegungen einnahm.“ So schreckten die USA nicht davor zurück, diktatorische Systeme zumal in Südamerika zu unterstützen, sofern sie strikt antikommunistisch waren. In Washington hatte man stets Angst vor einem „zweiten Kuba“.

Doch nach 1989 schwand die Furcht vor einer kommunistischen Bedrohung sowohl in Afrika als auch in Asien, und auch in Europa entzog man sich allem, was nach amerikanischer Bevormundung aussah. Der Zusammenhalt des Westens begann zu schwinden, gleichzeitig traten aber die Normen des Westens deutlicher hervor. Die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker hatten an internationaler Anerkennung gewonnen, so dass westliche Demokratien es sich immer weniger erlauben konnten, offen dagegen zu verstoßen. Die Verbreitung humanitärer und politischer Normen westlichen Ursprungs band den Westen zugleich an die von ihm propagierten Ideale. Die Errichtung des internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag feiert Winkler als einen großen Sieg, auch wenn die USA ihn nicht anerkennen.

Es gilt ja zu erkennen: Das westliche Projekt, die Quintessenz der Ideen von 1776 und 1789, benötigte zwei Jahrhunderte, um sich im Okzident durchzusetzen. Die Geschichte des Westens war seit dem 18. Jahrhundert immer auch ein Kampf um die Aneignung oder Ablehnung dieses Projekts. Die letzte Etappe dieses Ringens war die friedliche Revolution von 1989. Deutschland, insbesondere die Bewohner der DDR haben daran ihren Anteil. Ursprünglich war Deutschland zumindest in politischer Hinsicht kein Land des Westens. Diese Problematik hat Winkler bereits in seinen zwei Bänden über Deutschlands „langen Weg nach Westen“ dargestellt. Aber es hat die Reformation hervorgebracht, ohne die der moderne Westen kaum denkbar wäre. Es hat beträchtlichen Anteil an der europäischen Aufklärung. Doch Deutschlands Eliten haben sich bis in 20. Jahrhundert hinein den Menschenrechten und der repräsentativen Demokratie verweigert. Den Höhepunkt antiwestlicher Aufklärung bildete der Nationalsozialismus. Erst nach 1945 konnten die Deutschen wieder an die Weimarer Demokratie anknüpfen und sie weiterentwickeln.

Abschied von den Hoffnungen des Jahres 1989

Es ist gesagt worden, das normative Projekt des Westens sei klüger gewesen als seine Schöpfer, weil es davon ausging, dass seine hehren Versprechungen in der Realität nur schwer zu erreichen waren. Aber es beinhaltete auch das Prinzip der Selbstkritik, einen produktiven Prozess der Selbstkorrektur, der bis heute nicht abgeschlossen ist.

Die aktuelle internationale Lage zwingt den Westen, Abschied zu nehmen von den Hoffnungen des Jahres 1989, des Jahres, in dem Winklers Buch endet. In Russland sieht Putin in Gorbatschows ideologischem Rückzug einen schweren Fehler, den er mit seiner expansionistischen Politik zu korrigieren gedenkt. Der islamistische Terror, wie ihn in besonders radikaler Form der „Islamische Staat“ ausübt, ist eine Kampfansage an die westlichen Werte. Diese Herausforderung ist ein Grund mehr, sich mit Winklers Buch über die westliche Werte-Welt zu beschäftigen, ein Buch, das durch seine profunde Sachkenntnis und seine politische Zielsetzung tief beeindruckt.