Das Stuttgarter Kulturzentrum Merlin feiert ein ganzes Wochenende lang sein 33-jähriges Bestehen. Am Samstagabend versammelt sich zu dieser Gelegenheit das schönste Musikpublikum Stuttgarts.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Das Schönste am langen Geburtstagswochenende des Stuttgarter Kulturzentrums Merlin sind seine Besucher. Das stellt man am Donnerstagabend fest, als Bernd Begemann eine Zugabe nach der anderen spielt und die Leute einfach nicht nach Hause gehen. Normalerweise schaut man als Konzertveranstalter sorgenvoll auf die Uhr, wenn sich der Zeiger der 23-Uhr-Marke nähert, Stichwort letzte S-Bahn.

 

Bei Begemann ist das den Leuten kollektiv wurscht, und so singt der imposante Songschreiber aus Bad Salzuflen mit dem noch imposanteren Spickzettel immer noch ein weiteres seiner schmissigen Lieder, ehe er sich, wie ein Boxer mit Schweißtuch in den Nacken gehängt, an den Verkaufstisch setzt und Platten signiert.

Das schönste Publikum Stuttgarts hat das Merlin aber auch am Samstagabend. Das gilt schon für die Gala zum 33-jährigen Bestehen, bei der die Reden kürzer sind als gedacht und Jacques Palminger aus dem Hotelzimmer direkt ins Merlin beordert wird, um früher als geplant anzufangen. Dass das 440hz Trio, mit dem er seinen Spoken-Word-Jazz vor bestuhltem Saal vorträgt, eigentlich ein Quintett ist - ein schöner, kleiner Spaß der sehr präzise spielenden Combo. Bei Palminger, das nur nebenbei, denkt man an seinen letzten Auftritt im Auftrag des Merlin zurück. Da war er auf der Bühne nicht der Grandseigneur mit feinem Oberlippenbart, sondern der irr dreinblickende Bernd Wand vom Trio Fraktus.

Diese kleinen Gesten

Publikumslob, die Dritte: Es kommt nicht allzu oft vor, dass ein gut 300 Besucher starkes, stehendes Publikum zweieinhalb Stunden lang bei minimalistisch instrumentierten, am unteren Rand der Lautstärkeskala angesiedelten Konzerten hochkonzentriert bei der Sache ist. Manchmal leiden auch die Konzerte im Merlin unter arg redseligen Besuchern, etwa beim Klinke-Festival - was damit zu erklären ist, dass der Eintritt frei ist und diese Konzerte immer auch eine Art Branchentreffen darstellen. Wie auch immer, am Samstagabend wird es nur beim Applaus laut - ganz besonders für Enno Bungers Song "Wo bleiben die Beschwerden?". Der ruft dazu auf, sich gegen die Neue Rechte und für die Demokratie einzusetzen. 

Danach übernehmen Sea + Air die Bühne und das Piano, zünden erst einmal ein Licht an und spielen dann ihre Songs in spärlicher Instrumentierung. Das gelingt in den meisten Fällen, etwa beim sommerlich leichten "Should I Care" oder, ganz zum Schluss, mit dem für diesen Zugang geradezu klassischen und hier schon vor Jahren aufgezeichneten "You Are". Schön auch, dass das Nürtinger Duo sich mit "Wir sind Sea + Air aus Europa" vorstellt. Das und Enno Bungers Song sind natürlich nur kleine Gesten. Aber sie sind so wichtig, und es steht dem historisch mit den Grünen verbundenen Merlin bestens zu Gesicht, dass solche Künstler solche Zeichen genau hier setzen. 

Alte Idee, neu gedacht

Zum Abschluss des Minifestivals spielt am Samstagabend Gisbert zu Knyphausen. Im Merlin sind sie stolz darauf, den Freiherr aus dem Rheingau für Stuttgart entdeckt zu haben. Und nicht nur der Auftritt mit der Kid Kopphausen Band beim vom Merlin organisierten Pop-Freaks-Festival im vergangenen Jahr darf als Ausweis der Stilsicherheit im Merlin-Team gelten. Knyphausen befördert mit seinem Label Omaha Records ein Songwritertum jenseits von Lagerfeuergeschrammel und Gesäusel, organisiert auf seinem Weingut ein eigenes, stilistisch darüber noch weit hinausgehendes Festival

Es liegt natürlich auch am direkten, feinfühligen Vortrag von Knyphausen selbst, dass das Publikum ihm bis zum letzten Saitenzupfer folgt. Irgendwie sind sich an diesem Samstagabend alle einig, dass man das Jubiläum einer Konzertbühne eben am besten feiert, indem man sich voll und ganz auf die Musik konzentriert. Könnte es bitte immer so sein?

Letztlich zeigt das Jubiläumswochenende, zu dem auch der organisatorisch recht herausfordernde Freitagabend mit vier Stuttgarter Bands gehört, dass das Merlin es geschafft hat, sich selbst und das Konzept "soziokulturelles Zentrum" auf sehr gelungene Weise zu aktualisieren. Das Kulturzentrum erschließt sich beständig neue, auch junge Besuchergruppen. Es ist ein wichtiger Spielort für alternative und immer wieder auch lokale Popmusik. Und es vergisst, wie das schön durchmischte Publikum am Samstagabend zeigt, seine Wurzeln nicht. Das darf man wirklich feiern.


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