An seinem 18. Geburtstag hat er seine Schulkarriere beendet. Eberhard Simon ist jetzt 61 Jahre alt. Seit 1977 betreibt der Autodidakt, der nie einen Berufsabschluss gemacht hat, den Bioladen Leuchtkäfer. Wie lange noch, ist offen.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Ludwigsburg - Spätestens am 7. Juni 1973 ist allen klar geworden: dieser Typ tickt anders. Der Vater hat getobt, die Mutter war nicht begeistert. Der damalige Direktor des Mörike-Gymnasiums erstaunt ob der Unverfrorenheit dieses Schülers. Eberhard Simon war an jenem Juni-Tag 18 geworden, am Morgen zum Schulleiter marschiert und hatte keck erklärt: „Ich kündige, das hier ist nichts für mich.“ Seine Schulzeit war für ihn beendet.

 

Eberhard Simon ist längst in Ehren ergraut. Der Mann, der im Rückblick von sich sagt, er sei ein Spät-Hippie gewesen, trägt das dünner gewordene Haar als Pferdeschwanz, meistens Jeans, Strickpullover und Strickmütze – und fast immer ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Auch an diesem Tag, im Jahr 40 nach der Eröffnung seines Bio-Ladens Leuchtkäfer. Simon hat über diesen Mittag Enkel-Dienst. Er beaufsichtigt in der Küche seiner Wohngemeinschaft im Stockwerk über dem Laden den zweieinhalbjährigen Paul, „eines meiner acht Enkelkinder“.

Nicht nur Biolebensmittel im Angebot

Im Leuchtkäfer – seit rund drei Jahrzehnten im Gebäude Kaffeeberg 6 – sind nicht nur Biolebensmittel im Angebot, sondern auch Informationen für politisch interessierte Menschen aus dem linken Lager. Nur wegen der Lebensmittel sei der Leuchtkäfer wohl nicht mehr nötig, meint er, denn es gebe mittlerweile in vielen anderen Geschäften Bioprodukte.

Eberhard Simon war lange Jahre bei den Grünen. Er ist wegen des Jugoslawienkriegs ausgetreten. „Da ging es nicht mehr.“ Im März 1999 hatte die frisch gewählte rot-grüne Bundesregierung das Land in den Kosovokrieg geführt. Es war der erste Krieg, an dem sich die Bundesrepublik beteiligte, ein Krieg gegen einen souveränen Staat, ohne UN-Mandat. Man könnte sagen: die Grünen und ihr Frontmann, der damalige Außenminister Joschka Fischer, beugten sich dem politisch-moralischen Druck zur humanitären Intervention. Simon konnte die Gedankengänge durchaus nachvollziehen – aber nicht mitgehen.

Eberhard Simon wurde 1955 in Ludwigsburg geboren. Der Vater war Postbeamter, die Mutter Hausfrau – sie arbeitet bis heute im Leuchtkäfer mit. „Ich bin nicht weit gekommen“, sagt Simon – was so nicht ganz stimmt. Er ist zwar immer noch in der Barockstadt. Er war aber auch viel unterwegs, auch auf dem Weg zu sich selbst.

Psychedelische Substanzen und laute Rockmusik

Nach dem abrupten Ende als Gymnasiast hat er ein paar Monate lang zusammen mit gut einem Dutzend anderen jungen Leuten in einer Wohngemeinschaft in Affalterbach gelebt. Oder gehaust, wie bestimmt viele Nachbarn mit Blick auf die Kommune damals gesagt haben. Simon erinnert sich mit Schmunzeln an diese Zeiten. In seinem letzten Schuljahr war er öfter zu Treffen einer marxistisch-leninistischen Schülergruppe gegangen, „aber nicht wegen der Ideologie, sondern wegen der Mädels“. Die WG-Bewohner haben sich als Tagelöhner durchgeschlagen, auf Baustellen gearbeitet oder als Straßenkehrer. Der Verdienst wurde meist sofort auf den Kopf gehauen, „für Essen und spirituelle Getränke“ – und wohl auch für Cannabis und Co.

Damals ging es für ihn los mit der alternativen Ernährung. Eberhard Simon und zwei seiner Kumpels lebten ein paar Monate lang bei anthroposophisch angehauchten Bauern bei Kirchberg an der Jagst. „Ich glaube, die waren froh, als sie uns wieder los waren“, auch wegen allerlei „psychedelischer Substanzen“ und wegen der lauten Rockmusik. Die Kleingruppe mietete sich noch weiter draußen auf dem Land für monatlich 50 Mark ein verfallenes Haus mit Gärtchen. Das Gebäude hatte kein fließendes Wasser, und die Bewohner hatten keine Krankenversicherung. An die Rente, sagt Simon, hätten sie nicht gedacht. Sie lebten in den Tag hinein, verscherbelten gelegentlich irgendwelche Dinge auf Flohmärkten, sammelten Holz und manchmal auch Huflattich, trockneten diesen und verkauften die Kräuter in den ersten Bioläden in Tübingen und in Stuttgart.

„Wir haben wichtige Impulse gesetzt“

Die Idee war geboren: so ein Geschäft wollte er haben. Im Sommer 1977 wurde der Leuchtkäfer in einem alten Gebäude in der Ludwigsburger Weststadt eröffnet. „Ich wollte selber biologische Lebensmitte essen – und die Welt retten“, erklärt der selbst erklärte Müslimann vom Kaffeeberg. Er kann über sich selbst lachen, ist aber überzeugt: „Wir haben wichtige Impulse gesetzt.“ Ohne Menschen wie Eberhard Simon wäre der Ausstieg aus der Kernenergie wohl kaum beschlossen worden, es gäbe nicht so viele Solaranlagen auf den Dächern der Republik und auch nicht so viele Windräder. Und die Grünen säßen nicht in den Parlamenten.

Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ist die Stammkundschaft des Leuchtkäfers zunächst stetig gewachsen und dann wieder geschrumpft. Der Umzug in das alte Fachwerkhaus in der Innenstadt wurde auch mit Hilfe von Krediten der treuen Einkäufer gestemmt. Heute beschäftigt der Leuchtkäfer eine Umschülerin und einen Azubi. Eberhard Simon lebt die Hälfte der Woche mit seiner Frau in Herbertingen auf der Alb. Die Gattin ist Pädagogin und betreut Jugendliche. In Engstingen auf der Alb betreibt einer seiner Söhne ebenfalls einen Bioladen.

Ausnahmegenehmigung der IHK

Eberhard Simon war Rechnungsprüfer des Bundesverbands Naturkost Naturwaren, der rund 2500 kleine und größere Unternehmen vertritt, er war Marktsprecher in Ludwigsburg, saß im Prüfungsausschuss für Kriegsdienstverweigerer. Mit einer Ausnahmegenehmigung der IHK bildet der Selfmade-Mann Azubis aus.

Der Leuchtkäfer mache zwar weniger Umsatz als früher. Aber es bleibe ein bisschen Geld übrig, sagt der Inhaber. Die Kredite seien größtenteils abbezahlt, die beiden Läden – der in Ludwigsburg und der auf der Alb – kauften gemeinsam zu besseren Konditionen ein, und mit dem Stand auf dem Ludwigsburger Wochenmarkt verdiene er auch ordentlich was dazu.

Wie lange gibt es den Leuchtkäfer wohl noch? „Ein paar Jährchen“, sagt Simon. Die Übergabe an einen Nachfolger sei aber eher keine Option. Im August soll der 40. Geburtstag des Ladens gefeiert werden.