Vajont – in Italien ist das der Name für die Katastrophe schlechthin. Doch auch fünfzig Jahre nach dem gigantischen Bergsturz nördlich von Venedig ist ein Großteil des Landes immer noch brüchig und ungesichert.

Rom - Die wenigen Überlebenden erinnern sich zuerst an den infernalischen Lärm. Der ganze Berg, sagen sie, fing an zu krachen. Andere meinten, ein Güterzug würde in der nächsten Sekunde über sie hinwegrollen. „Dann ist mein Bett auseinandergebrochen, unter mir hat sich ein Loch aufgetan, etwas hat mich mit aller Kraft da reingesogen. Dann weiß ich nur noch, dass ich durch die Luft geflogen bin, 350 Meter weit. Und dass sie mich nachher nur deshalb gefunden haben, weil meine Hand aus dem Geröll ragte.“ So erzählt es Micaela Coletti. Zwölf Jahre alt war sie am Abend jenes 9. Oktober 1963, als die Katastrophe über das enge Piave-Tal hereinbrach, etwa hundert Kilometer nördlich von Venedig. „Im Morgengrauen danach standen wir vor einer Mondlandschaft. Alles gelb. Keinerlei Form und Gestalt mehr. Niemand hatte den Mut zu reden. Wir waren seelisch vernichtet.” Das sagt der Schriftsteller Maurizio Corona. Auch er, in seinem Bergdorf Erto, hat diese grauenvolle Nacht nur um Haaresbreite überlebt.

 

Etwa 2000 andere Menschen sind gestorben. Auf einen Schlag, im wahrsten Wortsinn: in einer bis zu 200 Meter Höhe aufschießenden Tsunami-Welle, in jenen 50 Millionen Kubikmetern Wasser, die mit einer Geschwindigkeit von 100 Kilometer pro Stunde und der Wucht von zwei Hiroshima-Bomben ganze Dörfer auslöschten, und in dem Sturm, der dieser Welle mit einer solchen Wucht vorausraste, dass er den Menschen die Haut vom Körper riss.

Warnungen wurden einfach ignoriert

Vajont. Der Name eines kleinen Bergflüsschens, das da zur Stromgewinnung und als Wasserreservoir für Venetien aufgestaut werden sollte, ist in Italien zum Inbegriff für Katastrophe geworden. „Unselige Staumauer! Durch Schlamperei und Gewinnsucht fremder Leute habe ich mein Leben verloren!“ Diese Inschrift auf einem anonymen Grabstein weist aber auch darauf hin, dass es keine unvermeidliche Naturkatastrophe war, was vor genau 50 Jahren passiert ist. Die Adriatische Elektrizitätsgesellschaft Sade wollte in das schluchtartig enge Tal die höchste Staumauer der Welt setzen und das Volumen des Stausees, den sie 1943 genehmigt bekommen hatte – in den Kriegswirren, in denen ohnehin keiner recht hinschaute – auch noch verdreifachen.

Es gab Geologen, die vor der Brüchigkeit der Berge ringsum warnten. Doch auch wenn ihre Einschätzungen von der Natur selbst mit beträchtlichen Gerölllawinen und Erdbeben bestätigt wurden – die Studien verschwanden in den Schubladen. Edoardo Semenza, der Sohn des Bauleiters, der drei Jahre vor der Katastrophe ihr Ausmaß exakt vorausberechnete, musste sich von seinem Vater rüffeln lassen: „Die Welt geht nicht unter, wenn du deine Aussagen ein wenig abschwächst.“ Und es gab eine staatliche Kommission zur Bauabnahme, die sich den Wünschen der Stromgesellschaft beugte: „Es könnte ein oberflächlicher Rutsch passieren oder ein enormer Bergsturz, aber objektiv zu entscheiden, was nun eintritt, ist nicht möglich.“ Warum also das Projekt stoppen?

Es kam der Bergsturz. Dünne Tonschichten in der Flanke des Monte Toc weichten im Wasser des frisch gefluteten Stausees auf, über ihnen geriet bis 800 Meter hinauf der Hang ins Rutschen. Die zunehmende Reibungswärme ließ das im Ton eingeschlossene Wasser schließlich explodieren – auf einen Schlag wurden 270 Millionen Kubikmeter Gestein abgesprengt. Die Massen stürzten in den See und jagten das Wasser hinaus. „Aber die Staumauer hat gehalten“, telegrafierte der Chefingenieur Alberico Biadene gleich danach.

Nach 50 Jahren sagt der Staat Entschuldigung

Die Staumauer steht gespenstischerweise bis heute. Der Tsunami ist einfach drübergeschwappt. „Aber aus der Katastrophe hat Italien nichts gelernt.“ So schreiben es Leitartikler, Professoren und Zivilschützer zum Vajont-Gedenktag. Erdrutsche sind Alltag in Italien. Jeder Starkregen wird zum Desaster. Abgeholzte, der Erosion schutzlos ausgesetzte Bergflanken, Sorglosigkeit, Schwarzbauten in Rutschgebieten, Zementierung der Natur sind die Hauptursachen. Ein Zehntel der Italiener lebt in Risikozonen, schätzt der Nationale Geologenrat, „und wenn nicht bald was getan wird, wird es ein Viertel sein innerhalb der nächsten 40 Jahre.“

Franco Gabrielli, der oberste Zivilschützer, wird nicht müde zu warnen: „Es fehlt an Vorsorge und Planung. Das ist die Achillesferse Italiens.“ Doch aus den Regionen schallt es zurück: Wir haben kein Geld. „2,7 Milliarden Euro bräuchten wir allein in Venetien“, sagt der regionale Umweltminister Daniele Stival, „wir kriegen aber nicht mehr als ein Fünftel zusammen.“

In Longarone, dem 1963 am meisten betroffenen und heute wieder zubetonierten Städtchen, haben jetzt auch die Gedenkveranstaltungen stattgefunden. Und es ist etwas geschehen, worauf die Überlebenden fünfzig Jahre haben warten müssen: Der Staat – in Gestalt des Umweltministers – hat um Entschuldigung gebeten.