Vor sechzig Jahren hat der Stuttgarter Sender SDR seine ersten Radio-Essays ausgestrahlt. Dieser Geburtstag einer Gattung ist jetzt mit Beiträgen von Rüdiger Safranski und Sibylle Lewitscharoff im Literaturhaus gefeiert worden.

Stuttgart - Rüdiger Safranski ist offenbar so etwas wie die Helene Fischer der Intellektuellen. Jedenfalls waren am Donnerstag schon am Nachmittag vor dem Literaturhaus in Stuttgart etwas kitschige Safranski-Porträts im Angebot – eine Ehrung, die vermutlich keinem anderen deutschen Denker zuteilwird. Safranski trat dort am Abend mit einem Vortrag unter dem Titel „Vergesellschaftete Zeit und Zeitsouveränität“ auf. Das klingt zwar anspruchsvoller als „Atemlos“, meinte aber etwas Ähnliches. Es ging um die „soziale Herrschaft der Uhr“, die dem Menschen eine Zeitknappheit suggerierten. Zum einen, weil seine Lebenszeit begrenzt ist, zum anderen weil in heilsgeschichtlicher Perspektive nur noch wenig Zeit bis zum Weltgericht verbleibe. Nicht umsonst gelte bei den Presbyterianern die Zeitverschwendung als die schwerste Sünde. Es gebe aber auch das Gegenstück, die Kritik an den „Kräften der Beschleunigung“. Dazu passte jenes Nietzsche-Zitat, das Safranski ausfindig gemacht hatte: „Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus.“

 

Der Publizist aus Badenweiler verstand es, einen breiten, geistesgeschichtlich fundierten, geistreichen Blick auf das Phänomen der Zeit zu werfen. Mühelos brachte er darin funkelnde Formulierungen unter wie „Das Verschwinden der Wirklichkeit aus der Wirklichkeit“ oder „Wir leben ganz selbstverständlich mit der Hand auf der Replay-Taste“, stibitzte weitere kluge Worte von Dichtern wie Ödön von Horváth („Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, nur komme ich so selten dazu“), von Hegel („die Furie des Verschwindens“) und aus einem Gedicht von Jorge Luis Borges, dem er die schöne Zuschreibung eines „ornithologischen Gottesbeweises“ gab. Nicht immer konnte der Zuhörer den Volten der Safranskischen Gedanken folgen, gelegentlich verlor er an den Übergängen den Faden, aber stets hatte er den Eindruck, dass hier Kluges und Gehaltvolles zu hören sein muss. So ist es Tradition mit dem Essay.

Safranskis einstündiger Vortrag wurde für das Radio aufgenommen. Er bildete den Abschluss eines Tages im Literaturhaus, der ganz dem Genre des Radio-Essays gewidmet gewesen war. Am 12. Juli 1955 nämlich hatte der SDR in Stuttgart ein neues Kulturprogramm unter diesem Titel ausgestrahlt. Als zuständiger Redakteur fungierte der Schriftsteller Alfred Andersch, der von einem ehrgeizigen 26-jährigen Assistenten namens Hans-Magnus Enzensberger unterstützt wurde. Andersch versammelte unter dem Rubrum ein breites Spektrum radiophoner Sendeformen, wie Stephan Krass, der heute zuständige SWR-Redakteur, erläuterte. Dazu gehörten Feature, Hörspiel, Literatur, Gespräch, Rezension. „So wurde der Radio-Essay zur Herzkammer der ‚großen Kulturmaschine Funk‘“. Als „Kulturmaschine“ hatte Andersch bereits 1949 die Aufgabe der Medien im Nachkriegsdeutschland bezeichnet.

Unheimliche Geräusche

Am Anfang war der Radio-Essay noch ein etwas diffuses Genre, dem so mancher Schriftsteller und Denker kritisch gegenüberstand. Krass verwies auf Gottfried Benn, der in seinem Gedicht „Radio“ beklagte, dass auf keinem Sender eine Damenstimme zu hören sei: „Eigentlich ist alles im männlichen Sitzen produziert, was das Abendland sein Höheres nennt“. Der damals eminent erfolgreiche Schweizer Kulturphilosoph Max Picard ging in seiner konservativen Medienkritik am Radio noch einen Schritt weiter. „Das Radio ist eine Maschinerie, die das pure Wortgeräusch produziert“, schrieb er 1948 in seinem Buch „Die Welt des Schweigens“. „Das ist das Heillose des Radios. In dieser Welt des Radiogeräusches können alle Urphänomene, die Wahrheit, die Treue, die Liebe, der Glaube nicht existieren.“ Das klingt mit Blick auf das Internet vertraut, wenn nicht im Ton, so doch dem Inhalt nach.

Heute würde wohl niemand mehr wie Picard ausgerechnet dem anspruchsvollen Kulturradio der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwerfen, es handle sich um ein Radiogeräusch, „formlos, unentschieden, innerlich und äußerlich, ohne Grenzen, maßlos.“ Schließlich haben Autoren wie Martin Walser, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Max Bense und Margret Boveri sich im „öffentlichen lauten Nachdenken“ geübt, wie SWR-Intendant Peter Boudgoust den „Radio-Essay“ bezeichnete. Auf zwei besonders beeindruckende Autoren aus der Geschichte der Reihe machte zudem die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff aufmerksam. Sie lobte die „paradierenden Hirnleistungen zweier moderner Männer, die der Krieg zwar verschont, aber mit deutlichen Blessuren in ein neues Ungewiss des Friedens entlassen hatte, in dessen verschütteltem Gehäus sie trotzig zwar, aber auch aufgewühlt, verschreckt und geistesabenteuernd herumstolperten“.

Gemeint waren die Schriftsteller Arno Schmidt und Wolfgang Koeppen. Schmidt hatte sich in einem seiner Essays für den SDR den Roman „Finnegans Wake“ von James Joyce vorgenommen und daran kein gutes Haar gelassen. In den Worten Lewitscharoffs hielt er es für ein „lauttechnisch aufgezwirbeltes, verhackstücktes und dann wieder silbendahinleierndes Werk.“ Wobei jedoch Schmidts Radio-Essay so belehrend sei, dass der Hörer sich bald fühle wie „ein aufsässiger Schüler, der seinem Lehrer eine tote Ratte in die Aktentasche praktizieren möchte“. Über die Reise-Essays Wolfgangs Koeppens aus Madrid, Rom und der Sowjetunion aber geriet die Schriftstellerin ins Schwärmen: „Gestochen scharf sind die Beobachtungen des Berichterstatters“.

Keine Zeit

Koeppens Reisebericht aus Russland unter dem Titel „Herr Polewoi und sein Gast“ wurde 1957 ausgestrahlt. Er dauerte drei Stunden und wurde nur einmal durch eine Nachrichtensendung unterbrochen. Der SWR mag zu Recht stolz sein auf seine 60-jährige Tradition des Radio-Essays. Aber für manche Ausprägungen dieses Genres hat der moderne Mensch, ganz im Sinne Safranskis, einfach keine Zeit mehr.