70 Jahre nach der Atombombe lebt die Erinnerung an den berühmtesten Arzt der Stadt Nagasaki weiter. Der Radiologe Takashi Nagai kümmerte sich um Opfer der Katastrophe und starb später selbst an den Folgen.

Japan - Am Vormittag des 9. August 1945 war Dr. Takashi Nagai gerade dabei, Röntgenbilder zu ordnen. Damals versuchte man die Tuberkulose in Japan durch eine Röntgen-Kampagne zu bekämpfen. „Plötzlich gab es einen hellen Blitz und mein Körper wurde drei Meter quer durch den Raum geschleudert. Ich erlitt Schnittwunden überall auf meiner rechten Körperhälfte und Blut füllte mein rechtes Auge, so dass ich nichts mehr sehen konnte“, schrieb der Radiologe und Assistenzprofessor des Nagasaki Medical College in einem seiner Bücher. Nagai ignorierte seine Verletzungen und begann, die Behandlung von Verletzten zu organisieren. Fünf Stunden später brach er zusammen. Eine Arterie rechts am Kopf war durchtrennt worden und er hatte viel Blut verloren.

 

Jeder dritte Bewohner von Nagasaki kam durch die zweite Atombombe ums Leben, die je über einem bewohnten Gebiet gezündet worden war, mehr als 74 000 Menschen im ersten halben Jahr. Drei Tage vorher war Hiroshima das Ziel des amerikanischen Bombers Enola Gay gewesen, 140 000 Opfer starben. Am 15. August 1945 gab Kaiser Hirohito über das Radio die Kapitulation bekannt. Damals ahnte Nagai nicht, dass ihn der Tenno vier Jahre später am Krankenbett besuchen würde.

Erste Aufzeichnungen über Patienten

Der damals 37-Jährige erholte sich schnell. Vier Tage nach der Katastrophe richtete er am Rand von Nagasaki eine Pflegestation ein und führte Hausbesuche durch. Seine Aufzeichnungen über 125 Patienten gehören zu den ersten, die über die „Hibakusha“, so heißen die Überlebenden der Atombombe, angefertigt wurden. „Es war seltsam, viele Patienten, die keine offensichtlichen Verletzungen hatten oder Anzeichen von inneren Blutungen zeigten, starben plötzlich“, schrieb Nagai später. Andere Opfer hatten massive Brandwunden, ihre Haut hing in Fetzen vom Körper.

Wieder andere, wie Nagais Frau Midori, waren auf der Stelle tot. Erst drei Tage später konnte Nagai nach ihr sehen. Wo einmal die Küche gewesen war, sah er aus einer schwarze Masse Teile von Hüfte und Rückgrat ragen. Daneben lag der verschmorte Rosenkranz seiner Frau. „Ich legte ihre Überreste in einen verkohlten Eimer. Sie waren noch warm“, schrieb Nagai. „Dabei hätte es doch meine Asche sein sollen, die bald von ihr gehalten werden würde.“

Zwei Monate zuvor hatte Nagai erfahren, dass ihm die Ärzte nur noch drei Jahre zu leben gaben. Statt 7000 weißen Blutkörperchen wie normal, hatte man bei ihm 108 000 gezählt: Nagai litt an chronischer myeloischer Leukämie, in seinem Fall eine Berufskrankheit. Er hatte in der Kriegszeit, als der Röntgenfilm knapp wurde, viele Aufnahmen „live“ durchgeführt, indem er sie sich direkt ansah. 100 Mal pro Tag stand er monatelang neben dem Apparat und bekam hohe Dosen an Radioaktivität ab.

Kinder überleben die Apokalypse

Wenigstens hatten seine beiden Kinder die Apokalypse überlebt. Als sich die Kriegssituation zuspitzte, hatte er den zehnjährigen Makoto und die vierjährige Kayano aufs Land geschickt. Dort trafen sie den Vater wieder, mit blutgetränkte Bandagen am Kopf, „aber mit glänzenden Augen“, erinnerten sie sich. Er war beseelt von dem Vorhaben, nun das „Atombombensyndrom“ zu erforschen.

Einen Monat nach der Explosion tauchten auch bei Nagai einschlägige Symptome auf, er verlor das Bewusstsein, überlebte erneut knapp. Er erholte sich, aber brach knapp ein Jahr später wieder zusammen. „Ich habe kaum noch die Kraft in ein Mikroskop zu schauen, geschweige denn Patienten zu behandeln. Aber zum Glück trage ich mein Forschungsthema – die Atombombenkrankheit – in meinem eigenen Körper“, notierte er.

Seit Juli 1946 bettlägerig, schrieb Nagai emsig, insgesamt ein Dutzend Bücher. Darin brachte er, bewusst ohne grausame Details auszusparen, die Zeit nach der Bombe zu Papier. Während viele der damaligen Berichte Bücher religiös geprägt waren, geht er im 70-seitigen „Atomic Bomb Rescue and Relief Report “, der ins Englische übersetzt wurde, detailliert auf medizinische Aspekte ein. Er beschreibt im Detail, woran und wie die Menschen starben und klassifiziert die Symptome der Überlebenden.

Der Kaiser Hirohito besucht Nagai am Krankenbett

Zugleich appelliert Nagai an seine Leser, alles zu tun, um weitere Atombombenabwürfe und überhaupt Kriege zu verhindern. Der ehemalige kannte den Schrecken des Krieges nur zu gut. In den 30er Jahren war er dreieinhalb Jahre an der Front in China als Mediziner. Nagai, der 1934 Christ geworden war, setzte das Prinzip der Nächstenliebe in die Tat um: Er behandelte jeden Soldaten, egal von welcher Armee.

Für sein Engagement für den Frieden wurde Nagai 1949 zum ersten Ehrenbürger Nagasakis gekürt. Kaiser Hirohito besuchte ihn am Krankenbett, wie ein Schwarzweißfoto dokumentiert. Es hängt in einem Museum neben Nagais Holzhütte „Nyokodo“, wo er mit seinen Kindern vor seinem Tod lebte. Dort ist auch eine Bibliothek untergebracht, die er für überlebende Kinder anlegen ließ. „Genshi“ – Kinder des Atoms“ – wurden sie damals abschätzig genannt. Nagai starb am 1. Mai 1951. Drei Monate zuvor lag die Zahl seiner weißen Blutkörperchen bei 390 000. Eine von ihm gewünschte Autopsie ergab, dass seine Leber auf das Fünffache angeschwollen war, seine Milz auf die 35-fache Größe.