Der große Sieg über die Nazi-Diktatur vor 70 Jahren hat für viele Regierungschefs am Gedenktag einen sehr aktellen Bezug. Wladimir Putin versteht den Wink wohl. Für den Veteranen Leon Gautier jedoch hat die Tagespolitik keine Bedeutung mehr.

Ouistreham - Leon Gautier ist an den Kriegsschauplatz zurückgekehrt. Er trägt das grüne Barett, das ihn als in Schottland trainierten Elitesoldaten ausweist. Wie eine Baskenmütze sieht es aus. Als der Franzose erstmals den Fuß auf den Strand von Ouistreham setzte, trug er es auch schon. Im Morgengrauen des 6. Juni 1944 war das gewesen. Die normannische Küste vor Augen, war er vom Deck eines britischen Marineboots ins seichte Wasser gesprungen. Im Feuer deutscher Soldaten stürmte er den Dünen entgegen. Panzersperren und Stacheldrahtrollen verstellten den Weg. Minen explodierten unter den Füßen der Kameraden. Granaten rissen Krater auf. „Nur rennen, rennen, rennen“, sagte sich Gautier, der sich im britischen Exil mit hartem, manchmal brutalem Training auf diesen Tag vorbereitet hatte.

 

Nun sitzt er mit 900 Kriegsveteranen auf einer der in den Strand von Ouistreham gerammten Ehrentribünen. Die Blickrichtung ist anders als damals. Mit 91 Jahren schaut Gautier jetzt aufs Meer hinaus. Der Arzt hat ihm jedwede Aufregung verboten. Aber wenn die Landung in der Normandie zur Sprache kommt, wenn von den 7000 Schiffen, 130 000 Soldaten und 23 000 Fallschirmjägern die Rede ist, die einst die deutsche Wehrmacht überraschten, dann wird er trotzdem unruhig. Dann komme es ihm vor, als sei es gestern erst gewesen, sagt er.

Die Veteranen standen im Mittelpunkt der Feier. Foto: POOL

Und an diesem Tag kommt die Landung ja nicht nur einfach zur Sprache. Siebzig Jahre nach dem D-Day, den der Franzose „Jour J“ nennt, wird sie vor den Augen von 20 Staats- und Regierungschefs, mehr als 7000 Ehrengästen und weltweit einer Milliarde Fernsehzuschauer zelebriert. Wer immer an der Spitze einer Nation steht, die einst zum Sieg über Nazi-Deutschland beigetragen hat, feiert mit. Der Gastgeber, Frankreichs Staatschef Francois Hollande,   US-Präsident Barack Obama, die britische Queen Elizabeth II. oder auch Kanadas Premier Stephen Harper, sie alle lassen nur gar zu gern die glorreiche Zeit wieder auferstehen, da ihre Völker geeint gegen das Böse antraten. Die Landung in der Normandie ist eines der wenigen Ereignisse der Geschichte, die in vielen Völkern Begeisterung ausgelöst haben“, schreibt der Historiker und Schriftsteller Olivier Wievorka.

Russlands Staatschef Wladimir Putin, im Westen seit der Annexion der Krim persona non grata, zählt ebenfalls zu den Gästen. Der Beitrag der Roten Armee, die an der Ostfront Hitler erfolgreich Paroli bot, ist nun einmal schwer zu leugnen. Aber Putin ist die Außenseiterrolle vorbehalten. Er fühlt sich sichtlich unwohl, blickt zur Seite, schluckt, blickt wieder zur Seite, schluckt wieder. Zu den Wenigen, die das Wort an ihn richten, zählt die Bundeskanzlerin. Aber Angela Merkels Miene deutet darauf hin, dass sie Putin nichts Nettes sagt.

Obama geht dem Kreml-Chef bis auf ein Gespräch am Rande des Mittagessens aus dem Weg. Im Vorfeld der Feiern hatte der US-Präsident mit Truppenstationierungen gedroht und noch einmal betont, die russische Annexion der Krim niemals zu akzeptieren. Putin konterte in einem Interview vorgestern mit dem Vorwurf, Washington betreibe, gestützt auf ein weltweites Netz von Militärstützpunkten, eine äußerst aggressive Politik. Und in gewissem Sinn war dann ja auch die französisch-amerikanische Zeremonie auf dem Soldatenfriedhof von Colleville-sur-Mer am Freitagvormittag eine unmissverständliche Botschaft.

Der Gastgeber Frankreich inszeniert das Gedenken im großen Stil. Foto: AFP

Die Sonne steht fast im Zenit, als Obama klargestellt, warum er gekommen ist. Zunächst natürlich, um die Gefallenen zu ehren, die an dem heute so idyllisch hinter Holunderblüten und Kiefernzweigen durchschimmernden Strand am D-Day zu Tausenden niedergemetzelt wurden, die „ihr Leben ließen, um Leute zu befreien, die sie noch nie gesehen haben“, wie Obama sagt. Aber das ist eben nicht alles. Der US-Präsident blickt nicht nur auf ein fast 10 000 Marmorkreuze zählendes Gräberfeld. Er schaut auch hohen militärischen Würdenträgern in die Augen. Ihnen will er ebenfalls huldigen. Das Vermächtnis der Veteranen sei bei ihren Nachfahren in guten Händen, sagt er und schaut zu seinen   Generälen herüber, deren sternenbesetzte Schulterklappen und Orden in der Sonne blitzen. Kanonendonner erklingt, Pulverdampf steigt auf, F-15-Jäger donnern im Tiefflug über die sich auf rotem Teppichboden drängende Menschenmenge. Auf Gesichtern von Veteranen, die so geschwächt sind, dass sie selbst im Sitzen Halt an Gehhilfen suchen, zeichnet sich ein stolzes Lächeln ab. Gewiss, das hier ist eine Hommage an sie, die Überlebenden des D-Days, an die Gefallenen. Aber es ist auch eine Demonstration der Stärke.

Putin spielt die Außenseiterrolle. Foto: POOL

  Angeblich soll Obama die französischen Gastgeber gebeten haben, ihn nicht neben Putin zu setzen. Offiziell mag dies niemand bestätigen. An den Gestaden von Ouistreham soll es schließlich nicht um tagespolitisches Klein-klein gehen, sondern um große Geschichte. In einer Aufführung lebt sie zum Ausklang der Feierlichkeiten von Ouistreham spektakulär auf. Militärmusik erklingt. Trommelwirbel folgen. Vor den Augen der Spitzenpolitiker und Veteranen marschieren Soldaten. Sie hissen Fahnen, salutieren. Das Meer stellt den marineblauen Hintergrund. Professionelle Tänzer lösen die Uniformierten ab. Heerscharen von Laiendarstellern gesellen sich hinzu, verleihen Naziterror, Krieg, Tod, Befreiung und Frieden menschliche Gestalt. Archivbilder flimmern über Riesenleinwände.

Wie anders, wie karg muten da im Vergleich Gautiers Erinnerungen an. Die Sorge um das Gewehr ist dem Veteranen noch gewärtig, das nicht nass werden durfte, während er durchs Wasser wartete. Eingeprägt haben sich ihm auch die angstvoll aufgerissenen Augen eines französischen Paares, das nicht gleich begriff, dass nicht der Tod nahte, sondern Rettung.   Gautier und 176 Landsleute, das war am D-Day die gesamte französische Invasionsstreitmacht gewesen. Das Gros der unter dem Oberbefehl von US-General   Dwight David Eisenhower stehenden, bis Ende Juli auf 1,5 Millionen Soldaten anwachsenden Streitmacht stellten Amerikaner, Briten und Kanadier.

Zweieinhalb Monate sollten die verlustreichen Kämpfe dauern, bis die Alliierten am 25. August 1944 Paris befreiten. Weitere achteinhalb Monate vergingen, bis die Deutschen am 7. Mai 1945 die Kapitulationsurkunde unterzeichneten. Jenseits des Strands von Ouistreham geht es weniger festlich zu. Die Normandie befindet sich im Ausnahmezustand. Hubschrauber knattern im Tiefflug über Apfelbaumwiesen. Bewaffnete Gendarmen riegeln Landstraßen ab, damit amerikanische King-Size-Konvois die für schmalen Verkehrswege gefahrlos nutzen können. Der Luftraum ist gesperrt. Mehr als 7500 französische Polizisten und 3500 Soldaten sind im Einsatz, unterstützt von 150 Mitarbeitern des amerikanischen Geheimdienstes. Auf dem Meer fahren Schnellboote. Zur Verfolgung von Kamikaze-Kämpfern stehen Jet-Skis bereit. Die Sicherheitskräfte haben einen Küstenstreifen von 80 Kilometer Länge und 20 Kilometer Breite zu kontrollieren.

Ein Bühnenspektakel belebt die Feier. Foto: dpa

Außer der großen internationalen Zeremonie von Ouistreham finden 20 weitere Feiern statt. Während Obama den Soldatenfriedhof von Colleville-sur-Mer aufgesucht hat, würdigte die Queen in der Kathedrale von Bayeux die britischen Opfer. Und dann   war da noch das gemeinsame Mittagsmahl hinter den moosbesetzten Natursteinmauern des Schlosses von Bénouville, das angeblich sicherer gewesen sein soll als Fort Knox.  

Michèle Lelievre feiert auf ihre Weise mit. Die Französin zählt zwar nicht zu geladenen Gästen. Aber sie verfolgt die Zeremonie auf einem der in Ouistreham angebrachten Großbildschirme. Am liebsten würde sie den Veteranen persönlich danken, denen aus den USA zumal, die in jungen Jahren zur Befreiung eines Tausende von Kilometern entfernten Volkes ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Soviel Großmut sei einmalig, sagt Lelievre. „Ich bin Mutter“, fügt sie nach einer Weile hinzu. „Ich habe zwei Kinder, ich würde sie wahrscheinlich nicht in ferne Kriege schicken.“