Allzeithoch bei den Flüchtlingszahlen in Deutschland: Die Verwaltung kommt mit dem Bearbeiten der Asylanträge nicht mehr hinterher. Schuld daran seien Systemmängel, kritisiert ein Migrationsforscher.

Stuttgart - Immer mehr Menschen beantragen Asyl in Deutschland. Allein im Juli sind nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 79 000 Asylbewerber in die Bundesrepublik gekommen – so viel wie nie zuvor seit dem Beginn der Zählungen im Jahr 1993. Mindestens 450 000 Anträge erwartet man beim BAMF bis Jahresende. Die Behörde kommt bei der Bearbeitung kaum noch hinterher, fast 240 000 unbearbeitete Anträge haben sich dort bis zum Juli aufgestaut. Das geht aus einer Studie des Migrationsexperten Dietrich Thränhardt von der Universität Münster hervor. Demnach gibt es in Deutschland einen solch immensen Stau bei der Bearbeitung von Asylanträgen wie in keinem anderen EU-Land.

 

Tatsächlich ist die Zahl der unerledigten Anträge in den letzten sieben Jahren um das 13-Fache gestiegen. Gab es nach Angaben des BAMF im Jahr 2009 rund 11 000 unbearbeitete Anträge, stieg die Zahl im vergangenen Jahr dann rasant auf 169 000 Anträge, um im Juli 2015 einen vorläufigen Höchstwert von 237877 unerledigten Anträgen zu erreichen.

Deutschland ist fragwürdiger Spitzenreiter

„Im europäischen Vergleich ist der deutsche Antragsberg einmalig“, sagt Thränhardt, „fast die Hälfte aller Antragsteller in der Europäischen Union, die derzeit auf eine Antwort warten, wartet in Deutschland.“ Auch nach Angaben des Europäischen Statistikamts gibt es allein in Deutschland mehr unerledigte Asylanträge als in allen anderen EU-Ländern zusammen. Während Länder wie Schweden, Italien oder die Niederlande ihre Verfahren straffer und effektiver gestalteten, sei Deutschland hier ein fragwürdiger Spitzenreiter, meint Thränhardt.

Das hat verschiedene Gründe. Zum einen werden in der Bundesrepublik so viele Asylanträge gestellt, wie in keinem anderen EU-Land. Ein weiterer Grund liegt im sogenannten Widerrufs-Prüfverfahren, das es in dieser Form nur in Deutschland gibt und dem Amt zusätzlich Aufwand beschert: Ist ein Asylantrag erfolgreich, gilt das zunächst nur für drei Jahre. Danach muss das Amt erneut entscheiden, ob der Asylstatus widerrufen wird, oder nicht. Rund 16 000 solcher Prüfverfahren gab es im vergangenen Jahr, aber nur in weniger als fünf Prozent der Fälle wurde der Status tatsächlich widerrufen. Die geringe Zahl rechtfertige den großen Aufwand nicht, kritisiert Thränhardt.

2000 neue Stellen versprochen

Eine weitere Belastung für das Amt seien die sogenannten Dublin-Fälle. Viele Menschen, die hierzulande einen Antrag stellen, sind über andere EU-Staaten nach Europa eingereist und müssen nach den Bestimmungen der Dublin-Verordnung auch dorthin zurück. 2014 traf das auf jeden fünften Antragsteller zu. Nur 14 Prozent wurden aber tatsächlich in ein anderes Land überstellt. So stelle sich die Frage, „ob die Ergebnisse den Aufwand rechtfertigen“. Entsprechend plädiert Thränhardt dafür, die Widerrufsverfahren abzuschaffen und Dublin-Fälle nicht mehr vorrangig als solche zu behandeln. Nicht zuletzt brauche die Behörde mehr Personal. Die Bundesregierung hat bereits bis zu 2000 neue Stellen versprochen – das braucht allerdings Zeit. Immerhin die Hälfte davon soll noch in diesem Jahr besetzt werden.