In Stockholm eröffnet am kommenden Dienstag das Abba-Museum. Die schwedische Gruppe gehört zu den erfolgreichsten Bands aller Zeiten. Doch was genau ist ihr Geheimnis? Warum hört sich dieser Sound der Siebziger auch im 21. Jahrhundert noch gut an.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Wer damals vorm Fernseher saß, wird es sein Leben lang nicht vergessen. 6. April 1974: der Eurovision Song Contest kommt aus dem englischen Seebad Brighton. Schöne Sängerinnen in süßen Kleidchen und nölige Barden in gestärkten Anzügen tragen ihre mit großem Bedacht gesetzten Lieder vor – the same procedure as every year.

 

Aber dann: Startnummer 8. Die Schweden! Ohne Vorwarnung oder irgendeinen Auftakt schrappen Bass und Gitarre einen hastigen, rockigen Rhythmus vor. „Waterloo! I was defeated, you won the war!“ Auf der Bühne zwei Mädels und zwei Jungs in bunten Klamotten. „Waterloo! Promise to love you for ever more.“ Der Typ mit dem Vollbart hämmert auf die Tasten seines Klavieres: di-dit, di-dit, di-dit. „Waterloo! Couldn’t escape if I wanted to.“ Ein dreckiges Saxofon verschmiert das Ende der Liedzeile. „Waterloo! Knowing my fate is to be with you.“ Die Blonde und die Brünette oben auf ihrem Treppchen schnippen und wippen im Takt und mit den Hüften. „Wa Wa Wa Wa!“ Und spätestens jetzt schnippt und wippt halb, ach: ganz Europa gemeinsam mit ihnen: „Waterloo – Finally facing my Waterloo.“

Abba ist Kult. Abba ist Mitschnippe, Mitwippen, Mitsingen

Seit diesen drei Grand-Prix-Minuten kennt die Welt Abba. Eigentlich ist es ja nur eine schwedische Popgruppe, die typisch schwedische Popmusik vorträgt. Aber Abba ist viel mehr. Abba ist Kult. Abba ist Mitschnippen, Mitwippen, Mitsingen. Abba ist Pop-Welterbe, auf das keine strengen Unesco-Denkmalschützer Schutzplaketten kleben müssen, weil die Millionen Abba-Fans überall selbst drauf achten. Und übrigens, wer immerhin seit etwa drei Minuten diesen Artikel liest, sei gewiss, dass auf unzähligen Radiowellen dieser Welt just in dieser Zeit ein Abba-Titel gesendet wurde.

Abba ist ein Phänomen. Es ist ja nicht nur, dass man „Abba“ und „Waterloo“ liest, und sofort ist die Melodie im Ohr. Das funktioniert auch sonst. Die großen Hits der Schweden sind so perfekt und eigen komponiert, dass drei, vier Anfangstakte genügen, und schon weiß man, was folgt: „SOS“, „Fernando“, „Money, Money, Money“, „Knowing me, knowing you“, „Dancing Queen“, „Super Trouper“, „The Winner takes it all“. Alles im Hirn, abgespeichert im limbischen System.

Abba gab es von 1972 bis 1982 – und gehört zu den großen Acht

Die Band Abba gab es nur zehn Jahre, von 1972 bis 1982. In dieser Zeit hat sie gerade acht Alben aufgenommen, und davon zählen eigentlich nur sieben, denn die erste LP namens „Ring Ring“ stammt noch von 1973 und wurde selbst in Schweden nicht viel gehört. Aber alles andere wurde sehr oft gehört – und gekauft. Nach Schätzungen der Musikindustrie sind bis heute weltweit mehr als 380 Millionen Tonträger verkauft worden, und damit gehört Abba zu den großen Acht der Popmusik, direkt neben den Beatles und Elvis, Madonna, Michael Jackson und Elton John, Led Zeppelin und Queen.

Von diesen großen Acht hatte es bei der ernsthaften Popkritik lange Zeit niemand so schwer wie die Schweden. Denn wie hatte 1973 nach Meinung der Experten gute, ehrliche Popmusik zu sein? Pop, so die Lehre, muss jung und rebellisch sein, erdig, schlammig, muss von Brüchen und Protesten künden, muss Grenzen überschreiten und auf jeden Fall Abscheu und Entsetzen ins Gesicht der Eltern zeichnen, darf keine Angst vor Drogen haben und schon gar nicht vor Hormonen.

Die ganz große Abba-Geschichte beginnt erst nach deren Ende

Gemessen daran war Abba in den siebziger Jahren kein ernsthafter Pop. Die Vier waren ja sogar miteinander verheiratet, je zwei, versteht sich; die strahlend blonde Agnetha mit dem etwas dunkleren Björn und die brünette Anni-Frid mit dem knuffigen Benny. Bestenfalls konnte man darum sagen, dass Abba das stilistische und rhythmische Instrumentarium des Pop nutzte, um es dann doch leider nur mit Opas Schlager zu versöhnen. Abba war „Bravo“, aber definitiv nicht „Rolling Stone“. Anfang der achtziger Jahre zerbrachen die beiden Ehen, kurz darauf zerbrach auch Abba. Sendeschluss.

Damit könnte diese Geschichte jetzt zu Ende gehen mit der Quintessenz: Liebe Leser, Abba war einmal in den siebziger Jahren eine sehr erfolgreiche schwedische Popgruppe. Wer ihre Musik mal wieder hören will, besuche bitte die nächstgelegene Ü-50-Party.

Die großen Popstars der 90er erweisen der Band ihre Referenz

Aber die ganz große Abba-Geschichte beginnt erst jetzt. Denn nach einem weiteren Jahrzehnt, im Sommer 1992 bringt das britische Synthie-Pop-Duo Erasure eine Maxi-CD namens „Abbaesque“ auf den Markt – vier alte Abba-Hits neu gemixt im superschnellen Disco-Rhythmus der noch jungen, hedonistischen Party-Neunziger, ein Knaller. Wenige Wochen später veröffentlicht das schwedische Label Polar Records das CD-Album „Abba Gold“, schließlich müssen alle alten Plattenhits nach und nach neu auf CD gepresst werden. Die Resonanz auf „Abba Gold“ ist aber gigantisch, das Album wird eines der bestverkauften aller Zeiten. Die Musik der Schweden wird über Nacht zur alle mitreißenden Partymucke. Verrückt: die höchsten Verkaufszahlen und die meisten Verkaufstrophäen bekommt Abba zu einer Zeit, als es Abba schon längst nicht mehr gibt.

Die großen Pop-Adressen der Neunziger und der Jahrtausendwende – U 2, Nirvana, Tina Turner, REM, Madonna – erweisen mit Coverversionen den Schweden ihre Reverenz. Und gerade weil im Alltag des multimedialen Musik-Massengeschäfts die Titel zusehends simpler und einfältiger gestrickt werden (sechs Melodietakte müssen reichen), erkennen auch Popkritiker inzwischen an, wie komplex und musikalisch anspruchsvoll die Abba-Melodien gebaut sind, wie stimmig und perfekt Benny Andersson und Björn Ulvaeus ihre Titel produziert haben und wie klar die Stimmen von Agnetha und Anni-Frid (Sopran und Mezzosopran) dazu harmonieren.

Niemand muss sich schämen, diesem Rhythmus nachzugeben

Abba ist ein Phänomen. Wer heute zur Party einlädt und um halb zwölf langsam unruhig wird , weil niemand auf die Tanzfläche geht, obwohl der DJ doch nun wirklich schon jede Stil-Schublade ausprobiert hat, der versuche es einfach mal mit einer Runde „Dancing Queen“. Das Gute an Abba ist: Niemand muss sich schämen, diesem Rhythmus nachzugeben. Zeitloser Pop. Obwohl es den ja eigentlich gar nicht geben dürfte. Den Beatles hört man, was gar nicht schlimm ist, immer die Sechziger an. Aber Abba nicht die Siebziger. Wa wa wa wa!