Die Nachtschicht, eine Abendgottesdienstreihe, bei welcher Pfarrer Ralf Vogel mit einem geladenen Gast spricht, geht in die nächste Runde. In 16 Jahren haben sich die Dimensionen verändert: Es kommen immer mehr Gäste, darunter auch viele Prominente, an immer speziellere und größere Veranstaltungsorte. Nur Pfarrer Vogel ist immer der Gleiche geblieben.

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Stuttgart - Pfarrer Ralf Vogel ist im Stress. Es gilt, die Nachtschicht-Gottesdienste vorzubereiten, die im Mai in Berlin anlässlich des Kirchentages stattfinden. Bisher steht vieles noch auf sehr wackeligen Füßen, angefangen beim Podiumsgast. Kommt der Geladene – oder kommt stattdessen eine Absage? Der evangelische Pfarrer Vogel fliegt nun eigens für nur einen Tag in die Hauptstadt, um alles niet- und nagelfest zu bekommen. Ein fliegender Vogel mit flatternden Nerven.

 

Dabei geht es auch anders. Das weiß Ralf Vogel sehr wohl. Der Gegenentwurf kam in Gestalt von Peter Wild vor einigen Jahren aus der S-Bahn gestiegen. Auch ein Podiumsgast der Nachtschicht, ein Meditationstrainer aus der Schweiz. „Als ich ihn damals aussteigen und auf mich zukommen sah, wusste ich, das wird großartig“, sagt Vogel. „Er lief ganz langsam, und er verwendete nur halb so viele Worte in der Minute wie alle anderen – aber jedes Wort machte froh.“

Das Motto des Kirchentages ist „ein großartiges“

Wild kommt wieder. Am Sonntag wird er Gast beim Auftakt der neuen Nachtschichtreihe zum Thema „Du siehst mich“ sein. Das ist auch das Motto des Kirchentags zum Reformationsjubiläum. „Wir haben das einfach übernommen – zumal es ein großartiges ist“, sagt Vogel. Es sei aktuell und greife eine gesellschaftliche Entwicklung auf, die negativ ist: So sei es schlimm, wie Menschen einander beobachteten, bewerteten und verurteilten. Gott hingegen sehe und liebe die Menschen auch mit den Schattenseiten. Das sei die zentrale Entdeckung Martin Luthers vor 500 Jahren gewesen.

Ralf Vogel sah in den 16 Jahren, in denen er die Nachtschicht veranstaltet, schon viele Gäste kommen und gehen. Darunter auch den heutigen Bundespräsidenten Joachim Gauck – nur drei Wochen vor seiner Wahl im Jahr 2012. Dieser begrüßte Vogel damals mit „Grüß Gott, Herr Pfarrer“. Die Andreaskirche war brechend voll, hunderte Gäste mussten abgewiesen werden. „Die waren wirklich verärgert“, sagt Vogel. Er hat daraus gelernt. Wenn er heute prominente Gäste einlädt, wird der Veranstaltungsort verlegt: Die Nachtschicht kooperiert mit dem Hospitalhof, war schon zu Gast im Stuttgarter Theaterhaus, im Mercedes-Benz-Museum oder im Katharinenhospital und wird nun in der Stadtkirche Bad-Cannstatt sowie auf dem Stuttgarter Marktplatz zugegen sein. Und in Berlin. „Solche Kooperationen passen zum Thema“, sagt Vogel, „Wir nehmen uns gegenseitig wahr und machen aus unseren jeweiligen Stärken zusammen etwas Neues“. Das sei wichtig für die Stadtgesellschaft.

Der Nachtschicht haftet nichts Projekthaftes mehr an

„Gauck geht, die Nachtschicht bleibt“, sagt Vogel mit einem Augenzwinkern. Bewusst verabschiedet hat sich Vogel indes vom Projektartigen, das der Nachtschicht einstmals anhaftete. Damals fand die Reihe einmal im Jahr zwischen Weihnachten und Ostern statt. „Ich kann aber manchen Gästen einfach nicht absagen“, sagt Vogel. Wenn also etwa der Moderator Frank Plasberg nur am 10. November Zeit hat, dann nimmt Vogel das Angebot freilich dennoch an – und konzipiert eine zusätzliche Reihe um das Gespräch herum. So wird der Pfarrer zum Eventmanager, der auch über Live-Streams nachdenkt. Moderne Kirche, fernab jeglicher Beschaulichkeit. „Das mag nicht jeder – aber für den gibt es ja Tausende andere Angebote überall“, sagt Vogel. Als einen der schönsten Momente beschreibt er, als er einen Nachtschicht-Gottesdienst im Katharinenhospital hielt, nach oben schaute, das Licht der Intensivstation sah und wusste: „Hier ist das Leben – an keinem anderen Ort der Welt will ich gerade Gottesdienst halten“.

Nur bei der Nachtschicht mit Peter Wild, damals im Jahr 2007, habe er eine ähnlich intensive Erfahrung gemacht. Denn es sind eben keineswegs immer nur die prominenten Gäste, die beeindrucken und im Gedächtnis haften bleiben. Und so ist sich Ralf Vogel sicher: Am Sonntag bei der Nachtschicht spätestens, im Gespräch mit dem Meditationstrainer Peter Wild, wird aus dem Eventmanager, dem fliegenden Vogel mit den flatternden Nerven, wieder nur der Herr Pfarrer. Ja, Grüß Gott: Gauck geht, die Nachtschicht bleibt.