In acht Wochen wählen die Berliner ihr Abgeordnetenhaus. Bis dahin ringen die Parteien um die Zustimmung in einer Stadt, die prosperiert, aber in der die Menschen mit der Politik unzufrieden sind. Derzeit herrscht ein historisch einmaliger Gleichstand.

Berlin - Die Luft riecht verbraucht im Saal 311 des Berliner Abgeordnetenhauses, es ist stickig, und das, obwohl alle Fenster in die Stadt hinaus weit offen stehen. Draußen rauscht es geschäftig, liegt das Berlin der Reisenden aus aller Welt, Gropiusbau, Mauerstreifen, Trabbi-Safari.

 

Drinnen fasst sich Frank Henkel mit seinem linken Daumen unter den weißen Haifischkragen, der harte Stoff schneidet am Hals in die Haut. Es ist heiß. Eigentlich ist Sommerpause.

Aber der Innenausschuss hat Sondersitzung. Es gibt Klärungsbedarf – und zwar in einer Qualität, die zu einem anderen Zeitpunkt durchaus für einen Rücktritt des Innensenators reichen würde. Der Grund ist eines jener Ereignisse, derentwegen die Republik mal wieder auf die Hauptstadt starrt. Kurzversion: Der Senator Henkel hat seine Polizei ein von Linksautonomen teils bewohntes, teils besetztes Haus im Szeneviertel Friedrichshain teilräumen lassen, um das vermeintliche Recht des Investors durchzusetzen. Danach gab es eine Weile ein bisschen Berliner Ausnahmezustand, die linke Szene drohte damit, die Stadt zu entglasen, bis dann ein Gericht entschied, dass die Räumung rechtswidrig war. Was den CDU-Senator nicht nur in die Lage brachte, seine Polizei abziehen zu müssen, sondern auch in eine echt peinliche Erklärungsnot. Und den Senat auch.

Ein bisschen Berliner Ausnahmezustand

Die Langversion ist deutlich komplizierter, der Ausschuss streitet sich vier Stunden lang um wichtige Details. Aber das wichtigste Ergebnis steht schon vor diesem langen Vormittag fest: All das hier wird keine politischen Konsequenzen haben.

Denn in acht Wochen wird in Berlin ein neues Abgeordnetenhaus gewählt, Henkel ist Spitzenkandidat der CDU, ein Spitzenkandidat tritt nicht zurück, und alles, was hier jetzt eskaliert wird, schadet am Ende dem Vertrauen in die Regierungsparteien.

Also ruhig Blut. Gerade haben die Sommerferien begonnen, die Berliner flüchten in Scharen. Das politische Handeln ist schon vorher zum Erliegen gekommen. In den leeren Fluren im Preußischen Landtag hallen kaum Schritte, die Saaldienerin vor der Tür von 311 wartet auf Dienstschluss. Das Leben fühlt sich an, als habe jemand die Pausetaste für die Stadt gedrückt, alles steht schwebend, nur manchmal zittert das Bild ein bisschen.

Alle Parteien sind für die Wähler gleich attraktiv. Oder unattraktiv?

Wer Politik macht, zittert mit. Denn wenn die jüngsten Umfragen stimmen, dann steht die Hauptstadt vor einer Situation, die es noch nie gegeben hat: Alle Parteien sind für die Wähler in etwa gleich attraktiv. Oder unattraktiv. Volksparteien? Gibt es nicht mehr. Die CDU leidet schon lange unter ihrer strukturellen Schwäche in Großstädten, jetzt hat es auch die SPD erwischt. Das Institut Insa sieht zwischen dem alten Platzhirsch (21 Prozent) und dem Newcomer AfD (14 Prozent) eine Spanne von acht Punkten, dazwischen versammeln sich CDU (19), Grüne (19), Linke (18). Ähnlich bei Infratest dimap – zwischen SPD und AfD liegen neun Punkte, der Rest dazwischen.

Rein praktisch gibt es eine Möglichkeit: rot-rot-grün

Was heißt das? Wer die Frage in Machtoptionen beantwortet, der kann das nur in Dreierbündnissen tun. Dafür gibt es rechnerisch viele und praktisch nur eine Möglichkeit: Rot-Rot-Grün. Und so macht man sich in Berliner Politrunden derzeit eher realpolitische Gedanken darüber, wen Grüne, Linke und SPD nach dem 18. September in die Sondierungen schicken und wer Senator wofür werden könnte.

Dabei wäre es auch ganz interessant, Ursachenforschung zu betreiben. Warum fallen CDU und SPD auf historische Tiefs? Wieso gibt die Linke anders als anderswo im Osten nicht an die AfD ab, sondern wächst? Woher kommen die AfD-Anhänger? Weshalb stagniert die Großstadtpartei Grüne? Wie regiert man eine Stadt der unklaren Mehrheiten, die zu zerfallen scheint in eine Ansammlung von Menschen mit Partikularinteressen? Wie identifiziert man den Wählerwillen?

Kurz vor den Wahlen ist eine schlechte Zeit für Analysen

Aber die Phase kurz vor Wahlen ist das schlechteste Zeitfenster für ehrliche Analysen. Seit fünf Jahren wird die Stadt – nach einer elfjährigen rot-roten Abstinenzperiode – wieder von einem rot-schwarzen Bündnis regiert. Damit haben die Berliner Erfahrung, und zwar keine gute. Die letzte große Koalition der 90er Jahre mitsamt dem Bankenskandal, der Flughafenstandortentscheidung und der Rekordverschuldung begründete den Ruf, als Selbstbereicherungsmaschine zu funktionieren und null visionäre Kraft zu entfalten.

Aber Visionen? Michael Müller glaubt sowieso an was anderes. Als er vor eineinhalb Jahren mitten in der Legislaturperiode das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Klaus Wowereit übernahm, erklärte er, was er für die Stadt tun wolle: „Gutes Regieren, ernsthafte Arbeit.“ In seinen Reden kommen Sätze vor, in denen es um die „ganz normalen Berliner“ geht, für die er das „Leben besser machen“ will. Er wisse, „wo der Schuh drückt“. Er hat die Attitüde des Kümmerers von Anfang an als bewusste Absetzbewegung von seinem Amtsvorgänger eingesetzt. Er füllt sie oft überzeugend. Wenn es denn jemand hören will. Am Dienstagabend ist das nicht so. Bürgerdialog in Pankow, der Bezirk hat 380 000 Einwohner, das ist eine Großstadt. Es kommen ein Dutzend Menschen, um sich ihren Regierenden Bürgermeister anzuhören.

Der Bürger scheint vor allem eines zu sein, dieser Tage: ein im Verteilen seiner politischen Gunst enorm volatiles Geschöpf.

Niemand ist unzufriedener mit seiner Regierung als die Berliner

Zwei Monate zuvor, wieder Pankow, ein lauer Frühjahrsabend im kleinen Programmkino Toni, Vorwahlkampf. Müller bereist die Stadt mit seiner „Füreinander-Tour“, nutzt mit der SPD-Veranstaltung den Amtsbonus voll aus. Gut 200 Leute sind gekommen. Vorne steht der Regierende in einem Lichtkegel und macht ein Zuhörgesicht. Die Bürger beklagen sich –über Fluglärm, die Baustelle fürs Einkaufszentrum, Kleingartenprobleme, über zu hohe Mieten. Und Michael Müller, Regierungsverantwortlicher, wird zum Mitbürger, sagt Sätze wie: „Da kann ich Ihren Ärger wirklich gut verstehen.“ Man glaubt ihm das sofort. Ändern wird es nichts. Aber keiner der Unzufriedenen hakt mehr nach.

In den Umfragen allerdings sind sie dann wieder da: Niemand ist unzufriedener mit seiner Landesregierung als die Berliner – nur gut jeder dritte Bürger teilt diese Meinung. Schon lange hätte die Koalition keine Mehrheit mehr. Zeitgleich prosperiert die Stadt: Zehntausende Jobs sind entstanden, die Arbeitslosenquote ist auf fantastische 9,7 Prozent gesunken, es gibt keine Neuverschuldung. Start-ups siedeln sich an, die Kreativszene liebt die Stadt noch immer. Berlin ist attraktiv, wächst rasant – auch wenn es unter der Belastung für seine kleingesparte Infrastruktur ächzt. Erstmals seit dem Krieg leben mehr als 3,5 Millionen Menschen hier, 40 000 ziehen jedes Jahr hierher. „Und die fühlen sich pudelwohl hier“, sagt Michael Müller. So schlecht kann es also hier nicht sein, oder? Wenn der Regierende Kritik hört, dann reagiert er oft unnötig schmallippig.

Berlin ist nicht Mogadischu

Es nervt ihn, wenn der Rest der Republik von einer „failed city“ spricht, als sei man hier in Mogadischu. Wenn alle genüsslich auf den saftigen Beispielen herumkauen, die man für Verwaltungsversagen finden kann: unterbesetzte Bürgerämter, marode Schulen, der unendliche Flughafen, ein Amt für Flüchtlinge, vor dem Kinder nachts zitternd im Matsch sitzen müssen, eine Landeswahlleiterin, die wegen Softwareproblemen vor der Abgeordnetenhauswahl Alarm schlägt.

Man kann gegen jedes dieser Beispiele argumentieren. Mit vielen Details, mit plausiblen Erklärungen, mit guten Gründen fürs Schiefgehen, mit Aussicht auf Besserung. Die Frage ist nur, wie viele Menschen bereit sind, dabei aufmerksam zuzuhören. Acht Wochen Zeit haben die Berliner noch, um sich zu entscheiden, von wem sie regiert werden wollen. Sechs Wochen davon machen sie Ferien.