Große Hoffnungen setzte die Neue Richtervereinigung einst in Justizminister Stickelberger. Nun resümiert der Landeschef Bader, es seien „verlorene“ Jahre gewesen. Der SPD-Mann lasse am liebsten „alles beim Alten“ – was sich nun räche.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Der Landeschef der Neuen Richtervereinigung (NRV), Johann Bader, ist ein belesener Mann. Seinen Aufsatz im nächsten „NRV-Info“ hat der Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht Stuttgart denn auch mit einem Buchtitel überschrieben: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – jenem Roman von Marcel Proust, in dem der Ich-Erzähler so gerne ein literarisches Werk schaffen will, aber irgendwie nie dazu kommt.

 
Johann Bader Foto: StZ

Baders Aufsatz handelt von einem Politiker, der eigentlich etwas bewegen wollte, aber dem das ebenfalls nicht so recht gelingt: Justizminister Rainer Stickelberger (63), SPD. Die „verlorene Zeit“ – das drohen aus Sicht der Verbandschefs die Jahre des Lörracher Sozialdemokraten an der Spitze des Justizministeriums zu werden. Mehr als drei von fünfen sind schon verstrichen – und aus Sicht des Verfassers vergeudet. „Es bleibt alles beim Alten“, lautet seine Zwischenbilanz, die die in Teilen der Justiz und der SPD bisher eher hinter vorgehaltener Hand kursierende Kritik an Stickelberger in ungekannter Deutlichkeit auf den Punkt bringt.

Kehrtwende nach dem Regierungswechsel

Wie viele Mitstreiter setzte Bader einst hohe Erwartungen in den neuen Minister. Als Oppositionsabgeordneter hatte dieser schließlich den Finger in manche Wunde gelegt, die damalige Regierung mit kritischen Fragen überzogen und vielfach Änderungen angemahnt. „Warum“, wundert sich der NRV-Chef, „waren die früher benannten Probleme nach dem Regierungswechsel plötzlich keine mehr?“ Natürlich verändere sich mit dem Amt die Perspektive, und vieles laufe in der Justiz ja auch gut. „Aber eine völlige Kehrtwendung mit Amtsantritt war weder angezeigt noch gerechtfertigt.“

Die Personalpolitik, zum Beispiel, gehe so weiter, als hätte es nie einen Regierungswechsel gegeben. Als Oppositionsabgeordneter habe Stickelberger noch die Mauschelei bei den Stellenbesetzungen moniert. Lange bevor ein Posten ausgeschrieben werde, stehe fest, wer ihn bekomme. Es bewerbe sich dann auch meistens nur der ausgeguckte Kandidat, andere würden im Zweifel über gezielte Beurteilungen aussortiert. Das Besetzungsverfahren sei reine „Camouflage“, so Bader, die darauf verschwendete Arbeitskraft wäre anderweitig besser eingesetzt.

„Von ihm ist nichts zu befürchten“

Unter dem neuen Ressortchef, den das einst ebenso störte wie ihn, habe sich daran nichts geändert – mit einem Unterschied: früher, unter den FDP-Vorgängern, habe man immerhin gewusst, dass der Ministerialdirektor Michael Steindorfner (CDU) die Personalplanung steuere; heute würden die Vorschläge „von Subalternbeamten unterschrieben“, die nie und nimmer selbst entschieden hätten. Wer das tue, bleibe unklar. Auch im Kampf für mehr Mitbestimmung oder gegen die „Ökonomisierung“ der Justiz bleibe Stickelberger weit hinter seinen früheren Forderungen zurück.

Justizminister Rainer Stickelberger Foto: dpa

Jene Kräfte in der Justiz, die Veränderungen scheuten, fühlten sich nach anfänglichen Irritationen längst wieder sicher. Ob Strukturen, Methoden oder Personalpolitik – „von diesem Justizminister ist nichts zu befürchten“, formuliert Bader ihr Fazit. Nicht Stickelberger führe das Haus, das Haus führe ihn, sekundieren andere Kritiker. „Keine Sorge, es bleibt alles beim Alten“, habe es kurz nach dem Regierungswechsel auch nach einer Dienstbesprechung der Leiter der Justizvollzugsanstalten geheißen. Doch genau wegen seiner Konfliktscheu sei der SPD-Mann nun, nach dem Hungertod eines Gefangenen in Bruchsal, in Bedrängnis. Nun erweise sich, dass die bestehenden Strukturen dringend hinterfragt gehört hätten, dass der Minister besser auf die Lenin-Losung „Vertraue, aber prüfe“ gesetzt hätte.

„Alle Probleme sind jetzt seine Probleme“

„Unglaublich“ ist für Bader nicht nur der Todesfall selbst, sondern auch all das, was seither bekannt wurde: dass in Bruchsal ein Gefangener mehrfach rechtswidrig entkleidet und körperlich durchsucht wurde, dass das Ministerium im Zuge der Verfassungsbeschwerde dazu auf eine Stellungnahme verzichtete, dass die unwürdige Praxis erst 15 Monate nach dem Karlsruher Urteil geändert wurde, dass es ungenehmigte und schwer nachvollziehbare Fälle von Einzelhaft gab, dass Gefangene von Bediensteten verhöhnt wurden und, und, und. Doch Stickelberger – wohl unvollständig informiert – habe nicht sofort aufgeklärt, sondern sich erst einmal weggeduckt.

„Dabei sind alle Probleme, die jetzt akut werden, seine Probleme“, urteilt der NRV-Chef. Bei der Amtsübernahme 2011 hätte er wissen können, dass es im Strafvollzug massive Schwierigkeiten gibt. „Wenn er dann aber alles so weiterlaufen lässt, wie er es vorfindet, übernimmt er die politische Verantwortung auch für solche Verhältnisse, die er nicht selbst geschaffen hat.“

Bruchsal als „Weckruf“ verstehen

Noch sieht Johann Bader die Chance, dass Stickelbergers Amtsperiode nicht vollends zur „verlorenen Zeit“ werde: Bruchsal könne für ihn „ein Weckruf“ sein, dass nicht alles Vorgefundene „gut und vertrauenswürdig“ sei, dass unverändert Handlungsbedarf bestehe.

Vielleicht nehme die Geschichte des SPD-Ministers doch noch einen ähnlichen Ausgang wie Prousts Roman. Dort überwinde der Erzähler das Gefühl, „zum Schreiben niemals befähigt zu sein“, dadurch, dass er einfach damit anfange.