Machen Ärzte aus einer harmlosen Krankheit auf Druck der Kassen etwas mehr und kassieren dann eine Prämie? Die Kassen schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu – und zurück bleiben verunsicherte Patienten.

Berlin - Die Verunsicherung ist groß, nachdem der Chef der Techniker-Krankenkasse, Jens Baas, publik gemacht hat, welche Bemühungen Kassen unternehmen, um möglichst hohe Fallzahlen bestimmter Erkrankungen statistisch zu generieren, um so mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu erhalten. Die Kassen weisen nun gegenseitig mit den Finger auf die Konkurrenz, Ärzte beschweren sich lauthals über rabiate Kassenmethoden – und zurück bleiben verunsicherte Patienten. Ihre Befürchtung ist naheliegend: Müssen sie damit rechnen, von ihrem niedergelassenen Arzt kränker gemacht und übertherapiert zu werden, damit der Mediziner von der Kasse eine Prämie bekommt? So ist es durchaus nicht. Um das zu verstehen, muss man aber begreifen, wie das System funktioniert.

 

Wie funktioniert das System?

Für die Abrechnung verwenden die Ärzte ein kompliziertes System von Klassifizierungen, den ICD-Code. Da hat nicht nur jede Krankheit, sondern jede ihrer besonderen Ausprägung eine Abürzung. Beispiel: Jemand kommt zum Arzt, weil er sich niedergeschlagen fühlt. Diagnostiziert der Arzt eine „mittelgradige depressive Episode“ trägt er F.32.1 ein. Es gibt aber noch viel mehr Abstufungen. Das ist für die Kassen wichtig. Sie bekommen ihr Geld aus dem Gesundheitsfonds. Im Prinzip bekommt jede Kasse pro Versicherten die gleiche Pauschale. Aber das ist unfair. Es gibt Kassen mit vielen alten Menschen, chronisch Kranken oder Mitglieder mit schwächeren Einkommen. Deshalb gibt es einen Ausgleich. So bekommen Kassen für bestimmte Krankheiten mehr Geld. 80 Krankheiten werden gelistet. Wobei das Extrageld gestaffelt fließt: Wieder das Beispiel: Für die einfach depressive Episode gibt es derzeit 510 Euro pro Jahr und Versicherten, für die mittelgradige sind es 1150 Euro. Um möglichst viele Diagnosen dieser Art zu erzeugen, lassen sich zwischen Kassen und Ärzten Verträge stricken, die sich gezielt um solche Patienten kümmern, einschließlich Prämie für den Arzt. Der hat dann also ein besonderes Interesse an genau diesen Fällen – und es liegt nahe, dass das seine Wirkung auf die „richtige“ Codierung nicht verfehlen wird. So funktioniert es. Was aber bedeutet das für den Patienten?

Was die Ärzte sagen

Nichts – sagen die Ärzte. „Die Codierung hat keine direkten Auswirkungen auf den Patienten“, sagt Kai Sonntag, der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Baden-Württemberg. Er nennte das Beispiel Diabetes. Da sei das Codierungssystem besondern fein ziseliert. Es werde nicht nur zwischen Typ 1 oder 2 unterschieden, sondern auch nach allen möglichen Folge-Erscheinungen. Sonntag: „Der Arzt behandelt nach Symptomen und Diagnose. Der Patient hat entweder einen offenen Fuß oder nicht – und der wird behandelt.“ Das sagt auch Ulrich Clever, der Frauenarzt ist Chef der Ärztekammer im Südwesten. „Ein Arzt kann einen Patienten nicht kränker machen als er ist. Entweder er ist krank, oder er ist nicht krank. Es geht nicht um falsche Diagnosen, sonst wäre es kriminell. Es geht um genauere Diagnosen.“ Dieser Aspekt ist nicht von dar Hand zu weisen: Es ist auch im Interesse des Patienten, wenn die Erfassung der Diagnose möglichst präzise ist. „Wenn es gelingt, durch eine sehr exakte Codierung Lücken in der Dokumentation zu schließen, dient das der Qualitätssicherung der Dokumentation. Das darf man überhaupt nicht skandalisieren“, sagt Barmer-Vorstand Christoph Straub.

Auffallend ist, dass die Ärzte offen über den Druck berichten, den sie sich seitens der Kassen ausgesetzt sehen. „Ärzte sehen sich von manchen Krankenkassen unter Druck gesetzt, bestimmte Codierungen doch häufiger vorzunehmen. Teilweise entsenden Kassen sogar Mitarbeiter zur sogenannten Beratung in die Praxen“, sagt Andreas Gassen, der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Ulrich Clever hat ähnliche Erfahrungen gemacht: „Auch in meiner Praxis sind schon Kassenvertreter erschienen. Sie hatten Listen von Patienten dabei und haben mich gebeten, die Patienten genauer zu diagnostizieren. Ich bin dem nicht nachgekommen und weiß, dass viele Kollegen solche Besuche hatten.“

Welche Risiken bestehen dennoch für den Patienten?

Kann den Patienten also egal sein, wie ihre Krankheit eingruppiert wird? Nicht so ganz. Thomas Schepp, Experte des Dachverbandes der Betriebskrankenkassen, sagt: „Wenn Versicherungen abgeschlossen werden, etwa für Berufsunfähigkeit, könnte beim Eintreten des Versicherungsfalles nachgefragt werden, ob es Vorerkrankungen gegeben hat.“ Wenn dann womöglich eine leichte Herzschwäche vermerkt sei, obwohl der Patient davon gar nichts weiß, weil die auch nie wirklich vorlag, könne er in Schwierigkeiten kommen.

Was sagen die Patientenschützer?

Bei den Verbraucherschützern vermag man Folgen für Patienten nicht einzuschätzen. Dort dringt man vor allem auf schnelle inhaltliche Aufklärung. „Die Aufsichtsbehörden in Bund und Ländern dürfen Abrechnungsmanipulationen oder gar Betrug nicht dulden“, sagt Klaus Müller, der Bundesvorstand der Verbraucherzentrale. Auch die Patientenschützer argumentieren politisch. „Wenn Kassen und Ärzte den Gesundheitsfonds plündern, geht das immer zu Lasten von Versicherten und Patienten“, sagt Eugen Brysch, der Vorstand der deutschen Stiftung Patientenschutz. Es sei „unverschämt, hier verharmlosend“, von Mogeleien zu sprechen.

http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.deutschland-betriebskrankenkassen- reform-des-finanzausgleichs-vor-wahl.60e84230-a6ec-41e8-b85a