Der Stuttgarter Theaterintendant Armin Petras will seine abseits gelegene Studiobühne aufwerten: Am Samstag ist im Nord das Großprojekt „Abschied von gestern“ erfolgreich eröffnet worden.

Stuttgart - Kleine Brüder haben es nie leicht. Um im Schatten der älteren Geschwister nicht übersehen und vernachlässigt zu werden, müssen sie ganz eigene Techniken der Selbstbehauptung entwickeln – oder eben eigene Strategien des Marketings, sofern es sich bei den kleinen Brüdern um Theater handelt. Das Nord gehört zu dieser Sorte der leicht ins Seitenaus geratenden Bühnen. Es ist nicht nur die kleinste Spielstätte des Stuttgarter Schauspiels, sondern – was noch schlimmer wiegt – auch die peripherste. Löwentorstraße 68, Nähe Pragsattel, inmitten von nachts verlassenen Versicherungs- und Autohäusern: es ist schwer zu finden und schwer zu erreichen. Und kaum, dass man dort ist, denkt man schon wieder ans Weggehen, so überwältigend ist die Unwirtlichkeit der Stadt an diesem Nicht-Ort.

 

Das hat Folgen fürs Theater und sein Publikum. Beide tun sich im Nord schwer miteinander. Sie ächzen unter einer Beziehung, der es an Leidenschaft mangelt – und das nicht erst seit der Intendanz von Armin Petras, sondern von Anfang an, seit der Eröffnung der Spielstätte 2010. Integriert in einen Probebühnenkomplex der Staatstheater, löste das Nord das Depot am Ostendplatz ab, ohne bis heute die Akzeptanz des in einem vitalen Umfeld agierenden Vorgängers zu erreichen. Als Hasko Weber wegen des Sanierungsdebakels am Eckensee seine Hauptbühne 2012 verlegen musste, leuchtete zwar auch das Nord für einige Monate, aber davor hatte auch er seine liebe Not mit dem Standortnachteil. Doch just damit soll nun Schluss sein: Mit dem „Abschied von gestern“ soll die marginalisierte Studiobühne des Schauspiels ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden.

Party für die Hipster

„In den nächsten sieben Wochen wollen wir das Nord zu einem lebendigen und offenen Ort machen“, sagte Armin Petras denn auch am Samstag zur Eröffnung der Veranstaltungsreihe. Und dass er es mit der Revitalisierung des sterilen Spielorts ernst meint, zeigt sich daran, dass er sie zur Chefsache erklärt hat. Er selbst hat die künstlerische Leitung des ersten „Nordlabors“ inne, den im Mai/Juni ein zweites, von Schorsch Kamerun kuratiertes folgen wird. Dessen vielversprechender Titel: „Das glaubst du ja wohl selber nicht“. Aber dass nun der Auftakt des ersten Labors gelungen ist, daran gibt es keinen Zweifel mehr. Bis weit in den Sonntagmorgen vergnügte sich das überwiegend junge Hipster-Publikum mit Bier, Cocktails und treibender House-Musik und machte derart gut gelaunt das Nord zu einem lebendigen, proppenvollen Partyort.

Theater, Installationen und Performances mal mit, mal ohne Tanz und Gesang gab es freilich auch. Die bunten Acts fanden vor und während der von Studenten der Kunstakademie ausgerichteten Party statt und kreisten in mitunter sehr assoziativen Bögen um das von Alexander Kluge entlehnte Thema des „Abschieds von gestern“. Der Initiation in das Projekt diente dabei eine Wanderung vom Schauspielhaus hoch ins Nord mit eingebauter Straßenbahnfahrt – und vor allem mit Stöpseln im Ohr, über die man den inneren Monologen zweier Stadtbesucher lauschen konnte. „Nach Norden!“ hieß der Hörspaziergang, der seine melancholische Sicht auf das Leben in Stuttgart und anderswo auch ins Herz der Spaziergänger zu pflanzen wusste. Und als die Theaterflaneure nach anderthalb Stunden das Nord erreicht hatten, trieb es sie in Kleingruppen in die Kellerräume des Gebäudekomplexes, wo ein „Trip durch die Katakomben“ wartete.

Mucksmäuschenstille bei Beckett

Neun kahle Räume wurden dort mehr oder weniger konventionell bespielt. Während hier Teresa Smolnik im gelben Festkostüm vor einem Heizungsbrenner saß, ihre Zähne raubvogelhaft in eine Pampelmuse stieß und dazwischen Schuberts „Winterreise“ sang, tanzte dort Verena Wilhelm expressiv zur Wunschmusik der Zuschauer und ließ sich zugleich von Shinroku Shimokawa in Ton modellieren. Nun, im Einzelnen mag man über die Qualität der „Tiefer als die Nacht“ betitelten Kellerkünste streiten, langweilig waren sie nie. Und wer sich nach all den genreübergreifenden Labor-Experimenten nach Konvention und Tradition sehnte, flüchtete zu Elmar Roloff. Er las Becketts „Letztes Band“. Ab und an hörte man dabei irgendwo Wasser rieseln, sonst aber: Mucksmäuschenstille unter dicken Lüftungsrohren.

Oberhalb der Katakomben ging die Party derweil weiter. Die Kinder der Nacht tanzten sich in den Morgen – und der Abschied von gestern, als das Nord der kleine, ungeliebte Bruder des Schauspielhauses war, scheint fürs Erste gelungen zu sein.