Hasko Weber legte 2005 einen fulminanten Einstand als Intendant beim Stuttgarter Schauspiel hin. Auch wenn er an diesen Erfolg später nicht mehr anknüpfen konnte: Weber hat Theater und Publikum acht gute Jahre beschert.

Stuttgart - Stuttgart, September 2010. Die erbitterte Auseinandersetzung über das Bahn- und Immobilienprojekt Stuttgart 21 steuert auf ihren Höhepunkt zu. Überall, wo Projektbefürworter auftreten, stoßen sie auf Projektgegner, die ihren Protest gegen das in ihren Augen schädliche Milliardenvorhaben lauthals kundtun. Je näher die von der Bahn angekündigten Baumfällungen im Schlossgarten rücken, desto angespannter wird die Lage. Es liegt was in der Luft. Und es ist nichts Gutes.

 

Just in diesen Tagen der Entscheidung tritt der damalige Oberbürgermeister im Schauspiel in der Türlenstraße auf. Den Sommer über war Wolfgang Schuster abgetaucht, jetzt aber ist er da, um in einer Sonntagsmatinee die Interimsspielstätte einzuweihen. Und siehe: Es geschieht ein Wunder! Obwohl die Mehrheit des Publikums aus engagierten S-21-Gegnern besteht, wird der OB nicht ausgebuht. Die Theaterbesucher hören seiner Festrede zu und diskutieren anschließend mit dem Stadtoberhaupt sachlich über das unvermeidliche Thema, dem sich zuvor auch schon der Intendant Hasko Weber gewidmet hat. „Die Stadt“, sagte Weber bei der Festveranstaltung, „ist von einer Dynamik erfasst, die so intensiv ist, dass keiner daran vorbeikommt. Wenn Sie meine persönliche Meinung hören wollen“ – und seine Worte richtete er direkt an Schuster – „dann ist es jetzt Zeit für ein Innehalten.“ Doch dazu, zum Nachdenken, war damals niemand mehr bereit. Elf Tage nach der Matinee kam es zu den Gewaltexzessen des 30. September, die als „schwarzer Donnerstag“ in die Stadtgeschichte eingegangen sind.

Warum diese Erinnerung an einen Appell, der folgenlos blieb und Wasserwerfer, Tränengas und Schlagstock nicht verhindern konnte?

Die Politik versagte, das Theater füllte die Lücke

Aus einem einfachen Grund: wie unter einem Brennglas zeigt die Episode, dass das Schauspiel in den Jahren von Hasko Weber ein Gespür für die Stadt entwickelt hat, das andere gesellschaftliche Einrichtungen in dieser Zeit vermissen ließen. Die Politik versagte vollkommen, so abgestumpft, wie sie im Gemeinderat und im Landtag war; das hellwache Theater aber sprang ein und füllte die Lücke. Mit einer seismografischen Genauigkeit, die an Prophetie grenzte, zeichnete das von klugen Dramaturgen und Regisseuren geführte Ensemble die Umbrüche in der Stadt auf – und zwar von Anfang an, seit 2005, als Weber seine Intendanz am Eckensee antrat. Acht Jahre hat der Dresdner Theatermann jetzt die Geschicke des Schauspiels am Staatstheater geleitet – und im Rückblick scheint es fast so, als habe bei dieser personellen Fügung keine banale Findungskommission, sondern der Hegel’sche Weltgeist selbst Regie geführt: Im aufgewühlten Stuttgart war Weber zur rechten Zeit am rechten Ort.

Denn Ort und Zeit verlangten nach politischem Theater. Und das Schauspiel folgte diesem Wunsch und setzte damit erfolgreich eine gute Stuttgarter Tradition fort. In den sechziger Jahren war es Peter Palitzsch, ein Jahrzehnt später Claus Peymann, der hier im Theater die Fragen der Zeit erörterte – und weil auch ihr Nachfolger Hasko Weber die Dramenklassiker auf ihr noch immer für Stadt und Land brisantes Potenzial abklopfen ließ, knüpfte er an die Arbeit seiner legendären Vorgänger an.

Lösch war der Publikum und Kritik gleichermaßen umstritten

Shakespeare, Goethe, Büchner, Ibsen, Gorki, Brecht: sie alle sind in Webers Amtszeit aus dem Kanon befreit und für aktuelle Debatten flottgemacht worden. Shakespeares Hamlet verzweifelte im ruinierten Saustall-Ländle, Goethes Faust verwirklichte sich als rücksichtsloser S-21-Modernisierer; Büchners Danton ließ sich von der Revolution in der Stadt fressen, während Ibsens Volksfeind im Kampf gegen die mafiöse Politikerclique verbitterte – und all die Kumpanei und Korruption fand in einer von Finanz- und Wirtschaftskrisen gebeutelten Zeit statt, der in Gorkis „Nachtasyl“ der schwäbische Mittelstand, in Brechts „Heiliger Johanna“ die internationale Arbeiterklasse zum Opfer fiel. Und ja, zugegeben: in der bilanzierenden Raffung klingen die Inhaltsangaben so, als habe Weber an einem Katalog der platten Aktualisierungen gearbeitet. Das Gegenteil ist der Fall. Die Inszenierungen waren in aller Regel weit mehr als plumper Agitprop, wofür vor allem der energische Volker Lösch sorgte.

Lösch war der bei Publikum und Kritik gleichermaßen umstrittene, das Schauspiel freilich prägende Hausregisseur. Er legte die Finger in die Wunden einer Stadt, die am liebsten vergessen würde, dass sich in ihren Mauern beispielsweise illegale Flüchtlinge verstecken. In Shakespeares „Titus Andronicus“ brachte er die Underdogs auf die Bühne – in Gestalt eines jener Bürgerchöre, die unter der Hand des Regieberserkers wie Pilze aus dem Boden schossen. Das Staatstheater mutierte zum Chortheater und machte Schule: Bürgerchöre gibt es heute an jedem Theater, das etwas auf sich hält. Der kämpferische Lösch aber hat sie in Stuttgart erfunden und perfektioniert, während am gleichen Ort der lustige Schmidt, Vorname: Harald, beweisen konnte, dass „Elvis lebt!“. So hieß die Liedrevue des Entertainers, die wie sein Hamlet-Musical „Der Prinz von Dänemark“ zum Publikumsrenner avancierte.

Der Intendant hatte ein Gespür für Schauspieler

Denn es ist nicht so, dass es unter Weber nur Polittheater gegeben hat. Es gab auch Lachtheater, Trashtheater, Diskurstheater, Seelentheater, das ganze Programm, mal psychologisch ausgefeilt, ästhetisch ziseliert oder komisch anarchistisch. Schroff nebeneinander fanden sich Spielweisen und Stoffe, die sich zu einem breiten Angebot für hungrige Zuschauer formierten. Und gestillt wurde der Appetit eben auch von Harald Schmidt, der sich als Late-Night-Heroe einen Traum erfüllte. Er wurde Staatsschauspieler – und über diesen Gag hinaus für zwei, drei Spielzeiten dramaturgisch sinnvoll ins Haus integriert, nicht zuletzt über die kongeniale Zusammenarbeit mit René Pollesch. „Wenn die Schauspieler mal einen freien Abend haben wollen, übernimmt Hedley Lamarr“, hieß eine der Arbeiten, in denen die beiden großen Jungs über die Selbstausbeutung der kreativen Klasse nachdachten – und tatsächlich war es unter Weber so, dass das ganze Ensemble mit Leidenschaft immer sein Bestes gab, um den Laden am Laufen zu halten.

Der Intendant hatte ein Gespür für Schauspieler, die er zu führen und einzusetzen wusste. Er schützte sie, ließ ihnen Zeit – und junge Männer wie Sebastian Röhrle, der unter dem Vorgänger Friedrich Schirmer noch seltsam gehemmt wirkte, spielten plötzlich wie befreit auf, während junge Frauen wie Lisa Bitter und Minna Wündrich zusehends an Präsenz und Präzision gewannen. Gemeinsam mit Routiniers wie Elmar Roloff, Sebastian Kowski, Martin Leutgeb, Anna Windmüller und Marietta Meguid bildeten sie ein homogenes Ensemble, dem man mit Spannung folgte – und doch war es Webers Schauspiel letztlich nicht gegönnt, dauerhaft in die Spitzenklasse aufzusteigen, dorthin, wo das Deutsche Theater in Berlin oder die Münchner Kammerspiele sich platziert haben.

Als Weber am Eckensee anfing, konnte man diese Hoffnung durchaus noch hegen. Nach seiner ersten Spielzeit kürte die bundesweite Kritik das Schauspiel zum Theater des Jahres. „Platonow“, „Dogville“ und nicht zuletzt „Herr Ritter von der traurigen Gestalt“ mit Corinna Harfouch in der Titelrolle waren die Inszenierungen, die das Publikum elektrisierten. An diese Anfangserfolge konnte der Chef nicht mehr anknüpfen. Sei’s drum. Hasko Weber und sein immer entschiedenes, meist vitales, nur selten langweiliges und auf alle Fälle abwechslungsreiches Theater ist uns ans Herz gewachsen – ebenso wie die souveräne Art, als gelernter Ossi mit der Unsouveränität von Bauherrn umzugehen, die seine Rückkehr ins Schauspielhaus vermasselt haben. Am Samstag feiert der Intendant im Nord seinen Abschied. Wenn alles mit rechten Dingen zugeht: donnernd und rauschend, wie er sich’s verdient hat.