Philipp Lahm beendet an diesem Samstag seine Karriere. Ohne den VfB Stuttgart hätte sie gar nicht angefangen, damals im Mai 2003.

München - Im Mai 2003 griff Hermann Gerland aufgeregt zum Telefon. Viel hat nicht gefehlt, und er hätte die 112 angerufen. Jedenfalls war es ein Notruf.

 

Gerland trainierte damals die Amateure des FC Bayern, und das Schicksal eines jungen Spielers brachte ihn schier um den Schlaf. Der Junge war 19, die Bayern trauten ihm den großen Sprung noch nicht zu, aber Gerland spürte: „Es wäre eine Schande gewesen, wenn er weiter in der Regionalliga hätte spielen müssen.“ Verstehen wir uns nicht falsch: Gerland war keiner, der ein Talent vorschnell mit den höheren Weihen verwöhnte. Im Gegenteil, grundsätzlich war er eher ein skeptischer Grantler, einmal entfuhr ihm sogar der Satz: „Von den heutigen Profis traut sich im Dunkeln keiner mehr auf die Straße.“

Lahm wird quer duch die Bundesliga angeboten

Aber dieser 19-Jährige war komplett anders. Der war einer wie er, und wie der Verteidiger Gerland früher war, beschreibt der Ex-Torjäger Jupp Heynckes heute noch wunderbar so: „Die offenen Wunden am Schienbein habe ich immer noch.“ Man nannte Gerland den „Tiger“, er war bissig, hungrig und fraß die Kilometer und die Linksaußen – und als er als Trainer jetzt sah, dass dieser 19-Jährige darüber hinaus auch noch richtig Fußball spielen konnte, bot er ihn quer durch die Bundesliga an. Er holte sich von den vielen Absagen ein wundes Ohr – bis er an Felix Magath geriet, der damals den VfB trainierte.

„Hör jetzt gut zu, Felix“, sagte er, „ich hab dir einen.“

Magath wusste, dass der Tiger nicht lügt. Sie tickten auf einer Wellenlänge, liebten beide den Medizinball als Trainingsinstrument, und als Gerland erzählte, dass der Junge auch noch einen starken Charakter hat, vergaß Magath den bettelarmen Zustand des VfB und ging mit dem Hut sammeln, um die circa 100 000 Euro Leihgebühr zusammenzukratzen. So fing in jenem Sommer 2003 diese ganz große Karriere an.

An diesem Samstag endet sie.

Der beste Verteidiger der Welt

Philipp Lahm, inzwischen 33, geht als Kapitän von Bord, gegen den SC Freiburg macht er sein 385. Spiel in der Bundesliga, und es ist sein letztes. Ein Abschied ist immer ein kleiner Tod, aber in dem Fall ist die Grabrede besonders traurig. Es geht der beste Verteidiger der Welt. Andere sind jedes Jahr ein paar Wochen lang klasse, aber Lahm war vierzehn Jahre lang klasse, Woche für Woche, Spiel für Spiel, konstant und unbequem für alle Gegner. Hinten war er ein zäher Wadenbeißer, vorne ein Virtuose am Ball, er war Verteidiger und Rechtsaußen, und die Kalklinie hat gestaubt, wenn er sich beim Auf und Ab da draußen am Flügel ständig unterwegs selbst begegnete.

„Er ist der intelligenteste Spieler, den ich je trainiert habe“, behauptet Pep Guardiola – und der hat auch Lionel Messi trainiert.

Lahms Intelligenz hat aber nicht an der Eckfahne aufgehört. Neulich war sie noch mal unüberhörbar, als er seinen jähen Verzicht auf den Job des Sportchefs beim FC Bayern mit dem filigranen Schlenker in Richtung des mächtigen Präsidenten garnierte: „Ich glaube, dass Uli Hoeneß noch zu tatkräftig ist, um loszulassen. Zu jung.“

Zu jung? Süßer kann man einem, der auf die 70 zustrebt, den Machthunger nicht aufs Honigbrot schmieren. Charmant umkurvte Lahm das Stichwort Kompetenzprobleme und beschenkte die Bayern durch die Blume mit der Botschaft: Sobald der unersetzliche Uli endlich loslässt, könnt ihr mich gerne wieder fragen.

Lahm sieht aus wie ein lieber Kerl, aber er ist mindestens ebenso auch ein pfiffiger Kerl und hat immer wieder Dinge getan, ohne vorher den Papst, die „Bild“-Zeitung oder Uli Hoeneß um Erlaubnis zu fragen. Von Letzterem hat Lahm viel gelernt, vor allem das Selbstverständnis des FC Bayern: „Mir san mir.“ Er hat es erweitert.

„Und i bin i“, sagt Lahm.

Der Meister der Selbstbestimmung

Wo die Gegner seine erdrückenden Flankenläufe mit dem fliegenden Holländer Arjen Robben fürchteten, zitterten die Bayern eher vor dem Solisten Lahm, dem Meister der Selbstbestimmung. Im Februar sagte er plötzlich: „Nach dieser Saison ist Schluss.“ Das war verblüffend, denn sein Vertrag endet eigentlich 2018. Überhaupt war es ein denkwürdiger Abend, drunten spielte Lahm in der Champions League gegen Arsenal, während droben auf der Tribüne durchsickerte, dass er aufhört und auch auf den Sportchef-Job pfeift. Das war ein Vorstoß, der so nicht abgesprochen war und mit dem Lahm die Bayern-Bosse am Nasenring durch die Manege führte. In Gedanken hätten sie den kleinen Schlawiner am liebsten an der Torlatte aufgehängt – jedenfalls sah Hoeneß vor dem TV-Mikrofon hinterher aus wie der einstige Kanzleramtschef Horst Ehmke, der nach der Enttarnung des bei Willy Brandt eingeschleusten DDR-Spions Guillaume durchs SPD-Büro brüllte: „Wir stehen ja da wie die Hilfsschüler!“

Kann es zur Krönung eines grandiosen Verteidigerlebens etwas Schöneres geben, als auch noch dem mächtigsten Mann des FC Bayern beim Zweikampf den Ball abzulaufen?

Statistiker behaupten, dass der Weltmeister, Champions-League-Sieger, achtmalige deutsche Meister, sechsmalige DFB-Pokalsieger und Club-Weltmeister Lahm alles in allem 29 999 Zweikämpfe gewonnen hat – verloren hat er nur einen, anno 2012 gegen Mario Balotelli, sonst wäre er auch noch Europameister geworden. Lahm sprang unter dem Ball durch, er war einen Kopf zu kurz.

Lahm hat sich nie unterkriegen lassen

Die Kleinen haben kein leichtes Leben, aber Lahm hat sich nie unterkriegen lassen. Sogar Kopfballtore hat er gemacht, ohne lange nach einem Schemel zu rufen. Lahms eiserner Wille, über sich hinaus und den aufgeblasensten Riesen über den Kopf zu wachsen, war stärker als die Vorurteile der Zweifler. Als Gerland den Hochbegabten damals am Telefon anbot, schreckten sogar berühmte Trainer zurück. „Für einige war er zu leicht“, hat Gerland später verraten. Doch Lahm biss sich durch, sofort spielte er mit dem VfB in der Champions League und wurde Nationalspieler. 113 Länderspiele hat er am Ende bestritten und den WM-Pokal in den Himmel über Rio gestemmt. „Jetzt ist Schluss“, sagte er am nächsten Morgen zu Bundestrainer Jogi Löw. Vollendete Tatsachen. Typisch Lahm. Oder typisch Skorpion?

Die Beispiele Pablo Picasso, Martin Luther oder Bill Gates zeigen: Wer unter diesem Sternzeichen auf die Welt kommt (wie auch Lahm am 11. November 1983 in München), hasst das Mittelmaß. So einer hört auf, bevor er nicht mehr perfekt ist, basta. Die Gelehrten definieren den Skorpion so: „Es ist ihm völlig gleichgültig, was andere denken, er geht seinen Weg nach eigenen Gesetzen.“

Auch der Stachel von Lahm ist, wenn es pressierte, schnell einmal spitz geworden. Er sieht aus, als ob er keine Stubenfliege an die Wand schlagen kann, hat es aber trotzdem immer wieder getan. In seinen Memoiren pikste er gegen alte Weggefährten und wurde gegen seinen Ex-Trainer Jürgen Klinsmann sogar richtig giftig, auf eins fünfzig mit Hut stauchte er den zusammen, um sich anschließend mit dem Satz zitieren zu lassen: „Das Buch ist gedruckt, deshalb kann ich nichts mehr rausnehmen.“

„Der König der Ich-AGs“

Dafür hat sich Lahm an anderer Stelle manches rausgenommen, sogar als Putschist musste er sich vorübergehend beschimpfen lassen. Ein kritischer Griffelspitzer hat unlängst unter dem Titel „Der König der Ich-AGs“ an jene Machtergreifung in der Nationalelf so erinnert: „Er sicherte sich durch gezielte Intrigen die DFB-Kapitänsbinde, als Michael Ballack schwächelte.“ Ballack war der große Capitano, bis der kleine Lahm kam – während der eine verletzt fast im Gipskorsett lag, übernahm der andere die Binde. Die älteren unter den Fußballfans dachten in dem Moment spontan an den früheren Nationallinksaußen Dieter Eckstein, der mit dem Satz berühmt wurde: „Die Kurzen mit den hohen Absätzen sind gefährlich.“

Philipp Lahm wusste jedenfalls immer, was er will. Deshalb können wir alle trösten, die heute traurig sind: Er wird wiederkommen – sobald Uli Hoeneß nur noch am Tegernsee Frisbee spielt und den Hund Gassi führt