In Tübingen fragt die Stadt ihre Bürger per Handy-App, ob sie ein neues Hallenbad wollen. Das sei die Vorstufe von unsicheren Wahlcomputern, kritisieren einige. Dabei wählen die Schweizer schon heute online.

Tübingen - Ein Klick auf die Smartphone-App, mit dem Daumen nach unten wischen, wieder Klick, Klick. Schon ist das Wahlkreuz gemacht und abgeschickt. In Tübingen können Bürger seit der vergangenen Woche bei der Politik digital mitbestimmen. Der Gemeinderat fragt, ob die Stadt ein neues Hallenbad und einen neuen Konzertsaal braucht. Die Fragen mit mehreren Antwortmöglichkeiten kommen per „Bürger-App“. Die können sich alle Tübinger, die älter sind als 16 Jahre, online auf ihr Smartphone herunterladen und sich mit einer Nummer oder dem so genannten QR-Code registrieren. Beides schickte die Stadt seinen Bürgern analog – per Post.

 

Doch kaum hat die Umfrage zum Hallenbad begonnen, regt sich Kritik. „Die Bürger-App ist ein Vorläufer des Wahlcomputers“, sagt Stefan Leibfarth vom Chaos Computer Club Stuttgart (CCCS). Zwar sollen die Umfrageergebnisse dem Gemeinderat lediglich als „wichtige Information“ dienen, die Entscheidung sollen die gewählten Vertreter selbst fällen. Tatsächlich, glaubt Leibfarth, produzierten die Zahlen aber eine hohe Verbindlichkeit. „Am Ende wird sich die Politik nicht der Meinung der Bürger entgegenstellen“, sagt der Experte. Auch befürchtet der CCCS, dass die Ergebnisse leicht manipuliert werden könnten. So lasse sich die Stimmenabgabe im Nachhinein nicht kontrollieren, weil nur der Systemanbieter auf diese zugreife. Die Stadt vertraue dem Anbieter und bekomme lediglich das Ergebnis. „Jeder, der auf die abgegebenen Stimmen zugreifen kann, könnte diese auch manipulieren, also auch Hacker oder der Betreiber selbst“, Stefan sagt Leibfarth.

Umstrittenes Thema

Die Stadt Tübingen rechtfertigt sich: Sowohl der Server mit den Daten der Bürger als auch die App wurden auf Hackerangriffe getestet und für sicher befunden. Sicherheitslücken könnte es geben, aber die seien auch bei einer Wahl mit Stift und Papier möglich. „Mit krimineller Energie lässt sich das Ergebnis einer Papierwahl ebenfalls beeinflussen.“

Über die Frage der Online-Wahlen wird in Fachkreisen schon länger diskutiert. Wenn am 26. Mai die Kommunal- und Europawahlen anstehen, werden sich viele fragen, warum wir eigentlich nicht am Computer oder am Handy wählen. Der Gedanke scheint zunächst verlockend, mit wenigen Klicks, die Füße auf dem Sofa, ausgeruht und überlegt, über die Zukunft der Kommune und der EU am Smartphone zu entscheiden. Online-Banking und Autokauf im Netz funktionieren schließlich auch. Und tatsächlich wählen schon heute in Europa Menschen vor heimischen Bildschirmen. In Estland nutzen Bürger bei der kommenden EU-Wahl als erstes Land das „E-Voting“, also das Wählen im Internet. Und auch in der Schweiz hinterlassen Wähler in vielen Kantonen ihre Stimme bei Bürgerentscheiden seit Jahren online.

Wie es technologisch in der Schweiz funktioniert

Das Konzept, das in beiden Ländern zugrunde liegt, unterscheidet sich im Aufwand aber deutlich von der Umfrage-App in Tübingen. Vereinfacht gesagt, läuft in der Schweiz die Stimmabgabe so: Die abgegebene Stimme des Wählers wird verschlüsselt und an einen Computerserver geschickt, den so genannten Mixer. Dieser benennt die Information um, „mischt“ sie und unterbindet so den Zusammenhang zwischen Wähler und Stimme. Somit kann nicht nachvollzogen werden, welcher Wähler wie gestimmt hat, das Wahlgeheimnis bleibt gewahrt. Damit der Server vor Hackern sicher ist, wird die neue Stimme wie ein Puzzle zerlegt und wiederum an andere Mixer gesendet. Um die Stimme am Ende auswerten zu können, müssen unterschiedliche Server nun das Stimmenpuzzle zusammenlegen. Wähler können zudem sicherstellen, dass ihre Stimme tatsächlich dem Klick entspricht, den sie gemacht haben: Auf einer Art Schwarzem Brett im Internet sehen sie hinter einer nur ihnen bekannten Nummer die Stimmenabgaben.

Für Firmen und Vereine unproblematisch?

Absolut sicher sind aber auch diese aufwendigen Systeme nicht. Denn nach wie vor könnten Hacker etwa die Computer der Wähler selbst manipulieren. „Für kritische Wahlen sind Online-Systeme noch nicht reif“, sagt Ralf Küsters, der Leiter des Instituts für Informationssicherheit an der Universität Stuttgart. Für Abstimmungen in Firmen oder Vereinen könnte man die Technologie nutzen. Für politische Wahlen seien die Risiken heute allerdings zu hoch. „Im Falle einer Hackerattacke leidet darunter die Glaubwürdigkeit unseres politischen Systems“, sagt Küsters.

Trotz der Kritik hält Tübingen an der Bürger-App fest. In Zukunft sollen Einwohner bei zwei Befragungen im Jahr online mitmachen. „Wir müssen die Leute dort abholen, wo sie sich aufhalten – vor ihrem Smartphone“, teilt Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) dazu mit.