Adipositas, also krankhaftes Übergewicht, lässt sich behandeln. Aber die Therapie dauert lange und sie ist keine reine Willenssache. Mit dem gut gemeinten Rat „Reiß Dich zusammen und iss die Hälfte“ ist es nicht getan.

Stuttgart - Zu seinen Spitzenzeiten wog Björn Brusgatis 318 Kilogramm. Selbst bei seinem Gardemaß von 2,05 Meter war das extrem. Wie konnte es dazu kommen? Im Verlauf seiner Tätigkeit als IT-Systemberater geriet der heute 35-Jährige immer mehr unter Stress. Den glich er durch Essen aus. Irgendwann bestand eine normale Portion für ihn aus eineinhalb Paketen Nudeln, einem Kilo Fleisch und einem Glas Gemüse – „und trotzdem stellte sich kein Sättigungsgefühl ein“.

 

Da war Brusgatis längst an dem Punkt, an dem der gut gemeinte Ratschlag „reißen Sie sich zusammen, dann klappt das schon mit dem Abnehmen“ vollkommen sinnlos war – oder ihn sogar noch mehr zum Rückzug in sich selbst getrieben hätte. Er litt an einer chronischen Erkrankung, die nur mit einem langfristig angelegten Programm behandelbar ist: Adipositas, auch als Fettleibigkeit oder Fettsucht bezeichnet.

Von Adipositas spricht man, wenn der Körpermasseindex (BMI) 30 oder mehr beträgt. Erwachsene mit einem BMI zwischen 20 und 25 gelten als normalgewichtig, bis 30 liegt „nur“ Übergewicht vor. Björn Brusgatis fiel mit einem BMI von 75,5 in die Kategorie „massive Adipositas“.

Übergewicht und Fettleibigkeit entstehen, wenn der Körper über Jahre hinweg mehr Kalorien zugeführt bekommt, als er verbraucht. So weit, so simpel. Dennoch lässt sich nicht restlos erklären, warum manche Menschen dabei so exzessiv Fett ansammeln. Klar ist nur, dass genetische Veranlagung und Umwelteinflüsse auf komplexe Weise zusammenwirken, dass sich zudem ein Zusammenhang mit chronischem Stress ebenso feststellen lässt wie ein gehäuftes Vorkommen von Adipositas unter bestimmten Lebensumständen.

Neben der Verhaltenstherapie gibt es auch Verhaltenstricks

Mit der Standardempfehlung, sich mäßig kalorienreduziert zu ernähren und mehr zu bewegen, lassen sich lediglich fünf bis sechs Kilogramm pro Jahr abschmelzen. Und schon das erfordert schier übermenschliches Durchhaltevermögen. Es funktioniert langfristig nur, wenn gleichzeitig die Essgewohnheiten über eine Verhaltenstherapie geändert werden. Denn die Regulierung der biochemischen Signale, die bei Gesunden Hunger und Sättigungsempfindungen steuern, ist bei Adipösen aus dem Ruder gelaufen. Dafür gewinnt das Belohnungssystem im Gehirn an Bedeutung, das angenehme Gefühle verschafft und Stressempfinden löst. Essen kann dieses System ebenso aktivieren wie Sex oder soziale Anerkennung.

Bei einer Verhaltenstherapie werden Patienten vor allem zur Selbstbeobachtung angeleitet. Ziel ist, sich mit den eigenen Gedanken auseinanderzusetzen und zu erkennen, wie diese sich auf das Essverhalten auswirken, sagt Martina de Zwaan von der Medizinischen Hochschule Hannover und Vorstandsmitglied des Kompetenznetzes Adipositas. Einfache Tricks helfen darüber hinaus bei der Verhaltenskontrolle: nur kleine Vorräte halten, Speisen auf kleinen Tellern anrichten, langsam kauen.

Vielen adipösen Menschen steht allerdings ein negatives Selbstbild übergroß im Weg – wenn es sie nicht überhaupt daran hindert, die Initiative zu ergreifen und professionelle Hilfe zu suchen. Das in der schlanken Bevölkerung verbreitete Vorurteil, Dicke seien selbst schuld und einfach nur willensschwach, sowie die Ablehnung, auf die Übergewichtige und Fettleibige selbst bei Ärzten stoßen, schlagen sich auf Dauer im Bewusstsein der Betroffenen nieder. Am Ende glauben sie selbst, zu nichts fähig zu sein. Oder nehmen die erlebten Zurückweisungen als normal hin.

Viele Mediziner sehen in Adipositas keine Krankheit

Kaum verwunderlich also, dass Adipositas oft mit Depressionen einhergeht. Allerdings bleibt offen, was Ursache und was Wirkung ist. Fest steht, dass auch psychische Leiden das Regulierungssystem des Körpers aus der Balance bringen können, vor allem Essstörungen. Ein Hinweis dafür ist, dass das sogenannte Binge-Eating – häufige unkontrollierbare Essanfälle, bei denen riesige Mengen vertilgt werden – bei Fettleibigen in einem Abnehmprogramm 15-mal häufiger gefunden wurde als im Durchschnitt der Bevölkerung.

Menschen mit Essstörungen haben häufig Schwierigkeiten, mit Emotionen umzugehen. Auf Wut oder Langeweile reagieren sie impulsiv – etwa mit Essanfällen. Bei Ess- und anderen psychischen Störungen ist eine psychotherapeutische Behandlung angezeigt. Es gibt Verfahren, mit denen sich der Umgang mit Affekten trainieren lässt. Es gibt sogar Methoden, Binge-Eating zu behandeln. Eine regelrechte Psychotherapie kann auch tiefer liegenden Ursachen auf den Grund gehen, frühkindlichen traumatischen Erlebnissen etwa oder unbewältigtem Stress.

Für Adipöse ist es jedoch schwierig, ein individuell abgestimmtes Programm zu finden. Anläufe scheitern oft schon daran, dass Mediziner Adipositas nicht als Erkrankung anerkennen. Und selbst wenn die Diagnose erfolgt und eine Behandlung verschrieben ist, übernehmen Krankenkassen die Kosten nur sehr zurückhaltend. Das liegt nicht nur an den hartnäckigen Vorurteilen, sondern womöglich auch daran, dass die Therapie von krankhaftem Übergewicht sehr lange dauern kann, soll sie nachhaltig wirken.

Am Anfang der Therapie stand die Selbsterkenntnis

Björn Brusgatis hat Glück gehabt. Doch zuvor musste er erst eine Krise erleben. Er brach sich bei einem leichten Ausrutscher auf Glatteis das Knie. Eine Operation war wegen seines Gewichts nicht möglich, es blieb nur Ruhigstellen und Abwarten. Dann kam der Burn-out, Folge der Dauerbelastung im Job. In der stationären psychotherapeutischen Behandlung kam auch die Adipositas zur Sprache.

Nun geschah endlich etwas. Am Anfang stand die Selbsterkenntnis. „Nach meinem Empfinden damals war ich schon immer schwer gewesen“, sagt Brusgatis, „Fotos zeigten jedoch, dass ich als Jugendlicher normalgewichtig war.“ An seinem Wohnort Kiel fand er Rückhalt bei Leidensgenossen in der Selbsthilfegruppe Adiposa. Die Mitarbeiter der interdisziplinären Sprechstunde in Kiel erreichten, dass die Kasse die Kosten einer OP zur Magenverkleinerung übernahm. Denn Magerkost allein wäre angesichts des massiven Übergewichts aussichtslos gewesen. Mit einer sogenannten Formuladiät, bei der Fertigdrinks oder Pulver zum Anrühren einzelne Mahlzeiten ersetzen, reduzierte Brusgatis seine Körpermasse so weit, dass eine OP möglich war.

Seit zwei Jahren lebt er jetzt mit einem sogenannten Schlauchmagen. Der hat mit rund 200 Millilitern ungefähr ein Zehntel des normalen Magenvolumens Erwachsener. „Als ich nach der Operation einen Joghurt löffelte, war ich schon satt, bevor der Becher leer war“, erinnert sich Brusgatis.

Heute bringt er noch 148 Kilo auf die Waage und ist bei Adiposa als zweiter Vorsitzender aktiv. Gemeinsam mit seinen Mitstreitern versucht er, das Bild zu korrigieren, das sich die Öffentlichkeit von fettleibigen Menschen macht, indem er offen über seine Geschichte spricht. „Wenn ich den Leuten zuhöre, die neu in der Selbsthilfegruppe sind, erkenne ich alles wieder, was auch ich erlebt und durchlitten habe“, sagt Brusgatis: „Diese Gespräche sind für mich wie eine Fortsetzung der Therapie.“

Die Krankheit Adipositas in Zahlen

Häufigkeit
Etwa jeder fünfte Erwachsene in Deutschland weist einen Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 30 auf. Davon ist fast eine Million massiv fettleibig (BMI von mehr als 40). Laut Robert-Koch-Institut ist die Häufigkeit von Adipositas in den letzten zwei Jahrzehnten gestiegen, vor allem bei Männern und im jungen Erwachsenenalter.

Einflussfaktoren
In ärmeren Wohngegenden leiden mehr Menschen an Übergewicht und Adipositas. Das haben jüngst zwei deutsche Untersuchungen ergeben. Geografen des Helmholtz-Zentrums München erfassten sozioökonomische Faktoren. Demnach fand sich in den am meisten benachteiligten Regionen – Ostdeutschland und Teile des Ruhrgebiets – ein höherer Anteil an Menschen mit Adipositas als in den bessergestellten. Und Forscher der Universität Leipzig fanden bei den Einschulungsuntersuchungen in den am stärksten sozial benachteiligten Stadtteilen Leipzigs doppelt so viele übergewichtige Kinder wie in den privilegierteren Gegenden.