Sisyphos mit Filmspule: der Deutsch-Afghane Ibrahim Arify rettet in Kabul das cinematografische Erbe des Landes. Und das alte Zelluloid zeigt: auch in Afghanistan trugen junge Frauen einst Miniröcke.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Kabul - Kein Kopftuch, nirgends. Stattdessen: junge Frauen, Zigaretten, Cafés, Miniröcke. Großstadtleben. Die Bilder wackeln schwarz-weiß, verwaschen, körnig und stumm vor sich hin. Was sie zeigen, sind Straßenszenen in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Aufgenommen wurden sie in den sechziger Jahren, als das Land von König Mohammed Sahir Schah regiert wurde, der Autos mit Filmprojektoren in alle Provinzen des Landes schicken ließ. Sie zeigten Wochenschauen, deren kräftig gemalte Propagandabilder die Botschaft vom Aufbruch des Landes in die Moderne verbreiteten. In den Filmen werden Wasserkraftwerke und Universitäten gebaut, Würdenträger fliegen mit Propellermaschinen ins Ausland und trinken auf diplomatischen Empfängen Champagner. Die Kameramänner, Chronisten der Moderne, sind stets dabei.

 

Was da zu sehen ist, ist eine versunkene Welt – und zum Leben erweckt hat sie Ibrahim Arify, der Direktor des afghanischen Filminstituts. Der 52-jährige Deutsch-Afghane, einst Kameramann für den WDR und das ZDF, steht bis zu den Knien in der Geschichte seines Landes. Im Keller und auf dem Dachboden des heruntergekommenen Gebäudes stapeln sich Rollen mit Zelluloidfilmen, Schachteln, Transportbehälter und kilometerlange, jeder Schutzhülle entblößte, schlangengleich ineinander verwickelte Zelluloidstreifen. Sie lagern seit Jahrzehnten auf dem Gelände des Instituts in der Kabuler Great Masoud Road. Lagern? Dieses Wort suggeriert eine gewisse Fachkenntnis, gar Behutsamkeit im Umgang mit dem Filmmaterial. Doch davon kann keine Rede sein. De facto war es so, dass mit der Machtübernahme der Taliban im Jahr 1996 Musik, Film und nichtreligiöse Literatur vernichtet werden sollten. „Sechs Container mit Filmmaterial haben sie verbrannt“, erinnert sich Arify. Allerdings machten sich die Gotteskrieger wenig Mühe, nach weiterem Material zu suchen, mit dem sie den Zelluloid-Scheiterhaufen hätten am Lodern halten können.

Was die Taliban noch übrig ließen

Auf diese Weise haben mehr als 20 000 Stunden Filmmaterial – gelagert in einem Hangar – überlebt, darunter auch ein vierminütiger Streifen, der die Ermordung des von den Sowjets unterstützten Präsidenten Nadschibullah durch die Taliban zeigt. „Der Kameramann filmte das grausige Geschehen und kam danach selbst nur mit Mühe mit dem Leben davon.“ Der Großteil des Materials aber hat zivilen Charakter. Es zeigt Staudämme, Elektrizitätswerke, die ganze Ikonografie der Aufbaupropaganda eines zukunftsfrohen Landes. Mit besonderem Stolz führen die Mitarbeiter einen Film vor, der das zerbombte Berlin der ersten Nachkriegsjahre zeigt. Auf welchen Wegen diese Luftaufnahmen nach Kabul gelangten, wer weiß das schon?

Überlebt haben die Filme, obwohl sie extremen Temperaturschwankungen ausgesetzt waren. „Im Sommer wurde es in dem Hangar oft bis zu 40 Grad heiß, im Winter sanken die Temperaturen auf minus 10 Grad“, so Arify. Digital gespeichertes Material hätte diesen Zumutungen nicht lange widerstanden. Die alten 16- und 35-Millimeterfilme aber lassen sich nach all den Jahren problemlos in die Metallspulen der Projektoren einfädeln. Wer sie in einem der Vorführräume sieht, fühlt sich durch das leise Rasseln der Filmschlingen, das Knarzen der Tonspur und das sich mühsam stabilisierende Bild in einen Zustand analoger Trance versetzt. Er sieht ein Afghanistan, das wenig zu tun hat mit der verheerten und gewaltbeladenen Region unserer Tage.

Der Herr des Celluloids: Ibrahim Arify

47 Angestellte des Filminstituts arbeiten daran, die Filme zu waschen, zu säubern und den Inhalt zu dokumentieren. Langsam per Handkurbel abgespult, wandert die Geschichte des Landes durch einen terpentingetränkten Lappen – ein später Triumph über den obsessiven Kampf der Taliban gegen das Bild.

Ibrahim Arify kam über das CIM, das Centrum für internationale Migration und Entwicklung, ins Land. Als Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der Bundesagentur für Arbeit vermittelt das CIM Fachkräfte in den Entwicklungsdienst. Arify selbst hat in Moskau studiert, floh vor den Bürgerkriegswirren der neunziger Jahre nach Deutschland und kehrte doch immer wieder zurück in seine Heimat. Der mit einer gewissen Eleganz gekleidete Filmenthusiast drehte für deutsche Sender in Afghanistan Dokumentationen über den Zerfall des Landes. „Ich habe auch unter Raketenbeschuss gearbeitet und gelernt: Wenn es nicht mehr pfeift, sollte man in Deckung gehen. Dann schlägt das Ding gleich ein.“ Bezahlt wird Alify von der afghanischen Regierung, die GIZ steuert ein so genanntes Topping up bei, stockt also das spärliche Gehalt auf.

Arifys archivarische Arbeit fügt sich nicht in die Taktung des digitalen Zeitalters, die auf einen atemlosen, sich ständig erneuernden Umsatz an Bildern und Musikclips setzt. Er arbeitet langsam und methodisch wie ein Archäologe. „Wir haben vielleicht etwas mehr als die Hälfte des hier herumliegenden Materials gesichtet“. Tag für Tag drehen sich die Spindeln der Reinigungsgeräte, wischen die Mitarbeiter des Filminstituts gleichmütig und konzentriert über die befleckten Filme. Dann holen sie die nächste Filmrolle aus dem Keller, eine staubbedeckte Transportbox der DDR-Fluglinie Interflug mit dem Aufkleber „Sovexportfilm“. Was mag sie enthalten? Wieder laut tönende Aufbaupropaganda? Eine Schulung für Agraringenieure? Einen züchtigen Liebesfilm? Ibrahim Arifys Reise in die filmische Vergangenheit Afghanistans hat gerade erst begonnen.