Die Talibankämpfer schaffen es, in Afghanistan gleich an mehreren Fronten zu kämpfen: Im Nordosten des Landes erobern sie zwei Bezirke. In der Hauptstadt Kabul wagen sie einen Angriff auf den am besten bewachten Ort des Landes – das Parlamentsgebäude.

Kabul - Die Wucht der Explosionen ist so gewaltig, dass die Fensterscheiben zerbersten und der Boden bebt. Binnen Sekunden erfüllt Rauch den Sitzungssaal, in Angst drängen Abgeordnete zu den Türen. Andere Konfliktländer haben Afghanistan in letzter Zeit aus den Schlagzeilen verdrängt. Doch nun haben die Kämpfer der Taliban den südasiatischen Staat zurück in die Nachrichten gebombt. Am Montag attackierten sie das Herz der Demokratie, das hochgesicherte Parlament in Kabul – und das mitten in einer laufenden Sitzung.

 

Der Zeitpunkt der blutigen Attacke mitten in der Hauptstadt Afghanistans war kein Zufall. Die Abgeordneten wollten gerade die Ernennung des neuen Verteidigungsminister Massoom Stanekzai billigen, als die Militanten angriffen. Ein Selbstmordattentäter sprengte sich mit einer Autobombe vor dem Eingang in die Luft, während sechs bis sieben Attentäter versuchten, das Parlament zu stürmen. Als die Polizei sie zurückschlug, verschanzten sie sich in einem Nebengebäude. Erst nach fast zwei Stunden konnte die Polizei alle Angreifer töten. Fünf Zivilisten, darunter ein Kind, kamen ums Leben, 31 Menschen wurden verletzt. Die Parlamentarier kamen laut Medienberichten mit dem Schrecken davon und konnten rechtzeitig evakuiert werden. Die Taliban bekannten sich noch während des Schusswechsels zu dem Anschlag. „Wir haben das Parlament attackiert, weil es eine wichtige Versammlung zur Vorstellung des Verteidigungsministers gab“, lies Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid verkünden.

Alle Kontrollen passiert

Ein Polizeisprecher sagte, der Attentäter habe trotz der Kontrollstellen sein mit Sprengstoff beladenes Auto bis zum Tor des Gebäudes gefahren. Unter Parlamentariern kam deswegen Kritik auf. Die für den Geheimdienst und die Sicherheit zuständigen Regierungsstellen hätten versagt, sagte der Politiker Farhad Sediki.

Der Anschlag am hellichten Tage auf das Parlamentsgebäude zeigt, wie brisant die Lage ist. Seit die Nato Ende 2014 die meisten Soldaten abzog, nehmen Kämpfe und Anschläge zu. Die Angst geht um, dass die Taliban Stück für Stück das vom Krieg in Mitleidenschaft gezogene Land zurückerobern. Im April starteten die militanten Islamisten gleich mehrere bewaffnete Offensiven. Vor allem in der Provinz Kundus, dem früheren Standort der Bundeswehr, ringen Taliban und Regierung um die Oberhand. Die Militanten rücken dort auf die Provinzhauptstadt Kundus vor.

Die Taliban sind auf dem Vormarsch

Am Montag fiel der Distrikt Archi nahe Kundus in die Hände der Taliban, nachdem Kämpfer zuvor bereits den Nachbardistrikt Chardara gestürmt hatten. „Die Taliban haben den Bezirk heute morgen eingenommen. Sie haben viele ausländische Kämpfer mit schweren Maschinengewehren“, bestätigte Distriktgouverneur Nasruddin Saeedi, der in die Provinzhaupstadt Kundus flüchtete, der Agentur Reuters.

Die Zweifel wachsen, ob die Sicherheitskräfte den Taliban gewachsen sind. Um ihren Abzug abzufedern, hatten die Nato in aller Eile Zehntausende Soldaten und Polizisten trainiert. Doch die Truppen verzeichnen alarmierende Verluste und klagen über unzureichende Ausrüstung. Nach einer Studie über die „Kosten des Krieges“ an der amerikanischen Brown Universität forderte der „Anti-Terror“-Krieg zwischen 2001 und 2014 allein in Afghanistan über 90 000 Menschenleben.

Kooperation mit den Taliban

Afghanistans Regierungschef Ashraf Ghani weiß, dass es illusorisch ist, zu glauben, dass die Sicherheitskräfte die Taliban militärisch besiegen könnten. Er fährt eine Doppelstrategie. Zum einen bat er die USA, Truppen im Land zu lassen. Zum anderen setzt er auf Friedensgespräche. Dazu braucht er jedoch Pakistan, das der Spitze der afghanischen Taliban Zuflucht gewährt und maßgeblichen Einfluss auf sie hat. Erste Vorgespräche mit den Taliban gab es, doch noch ist unklar, ob die Taliban bereit sind, ernsthaft über eine friedliche Lösung zu verhandeln.