Vor zehn Jahren verkündete der damalige Kanzler Gerhard Schröder wichtige Sozial- und Wirtschaftsreformen. Die Agenda 2010 hat den Sozialstaat verändert – und sie hat bei der Mittelschicht Spuren hinterlassen. Etwa die Angst vor Hartz IV.

Berlin - An den Tag erinnert er sich heute noch. Der Berliner Wirtschaftsprofessor Gert Wagner von der TU Berlin hörte die Regierungserklärung des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder im Radio. Seine erste Reaktion war Enttäuschung. „Ich habe die Agenda-Rede nicht für so wichtig genommen“, sagt Wagner bei einer Veranstaltung des Instituts der deutschen Wirtschaft.

 

Als Gerhard Schröder am 14. März 2003 im Bundestag seine Regierungserklärung „Mut zum Frieden und zur Veränderung“ hielt, herrschte Stille im Parlament. Von seinen eigenen Leuten aus der SPD-Bundestagsfraktion gab es damals nur spärlich Beifall. Gleichwohl hatten damals die wenigsten Zuhörer das Gefühl, Schröder habe eine der wichtigsten Sozial- und Arbeitsmarktreformen der Nachkriegszeit verkündet. Die Tragweite der Agenda 2010 wurde erst in den nächsten Monaten und Jahren sichtbar. Ob die Änderungen Fluch oder Segen bedeuten, ist nach wie vor umstritten.

„Wir waren mit unserem Latein am Ende“

Um Schröders Wende zu verstehen, ist ein Blick auf die Ausgangslage wichtig. „Wir waren mit unserem Latein am Ende“, beschreibt der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement die Lage. Die damalige Wirtschaftslage in Deutschland ähnelt der heutigen Krisenstimmung in Südeuropa. Seit 2001 stagnierte die deutsche Wirtschaft. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch herrschte Verunsicherung. 2001 wurden die Terroranschläge in New York und Washington verübt. 2003 begann der dritte Golfkrieg. Die rot-grüne Bundesregierung stand vor riesigen Problemen.

Deutschland galt als kranker Mann Europas, es herrschte Wachstumsschwäche, Investitionen und Konsumausgaben waren gesunken. Die Arbeitslosigkeit stieg 2003 auf mehr als vier Millionen. Rot-Grün versuchte mit der Agenda 2010 den Befreiungsschlag. Schröder sagte im Bundestag: „Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa zu kommen.“ Er sprach vom Mut zur Veränderung, Kürzungen bei staatlichen Leistungen und mehr Eigenverantwortung – die SPD-Fraktion reagierte schockiert.

Die Rente mit 67 Jahren kam von der Großen Koalition

Die Agenda 2010 wird in der Öffentlichkeit mit tiefen Einschnitten am Arbeitsmarkt, bei der Rente und im Gesundheitswesen verbunden. Tatsächlich stammt zum Beispiel der Beschluss, dass Frauen zunächst bis 65 Jahre arbeiten müssen, noch aus der Regierung Kohl. Die Rente mit 67 Jahren wurde später von der Großen Koalition auf den Weg gebracht.

Kernpunkt der Agenda 2010 war die Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik. Um die Frühverrentungsprogramme zu erschweren, sorgte Schröder dafür, dass das Arbeitslosengeld I nur noch höchstens 18 Monate bezahlt wird. Vor der Reform konnten Arbeitslose die Unterstützung bis zu 32 Monate erhalten. Entscheidend war die Zusammenlegung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe zu einer Leistung. „Fördern und fordern“, lautete das Motto von Rot-Grün. Die wichtigste Neuerung bestand darin, dass die Arbeitsagentur fortan auch die Sozialhilfeempfänger betreute. Das hält Clement für einen der größten Erfolge: „Wir haben einige Hunderttausend Leute aus der Sozialhilfe in den Arbeitsmarkt geführt“, sagt er heute. Ihn selbst kostete die Reform das Amt. Die Zusammenlegung führte dazu, dass die Arbeitslosenzahl 2005 auf mehr als fünf Millionen stieg. Schröder wurde abgewählt. Schnell geriet in Vergessenheit, dass die Agenda 2010 mehr bedeutete als eine neue Arbeitsmarktpolitik. Dazu gehörte eine Liberalisierung der Handwerksordnung ebenso wie neue Belastungen für Arbeitnehmer in der Krankenversicherung.

Hartz IV hat in der Mittelschicht Spuren hinterlassen

Einig sind sich die meisten Politiker und Fachleute, dass die Agenda 2010 Deutschland vorangebracht hat. Ohne die Sozialreformen hätte es Deutschland kaum geschafft, wieder Konjunkturlokomotive in Europa zu werden. Die Bilanz lässt sich sehen: Seit 2006 sind die Arbeitslosenzahlen gesunken, die Zahl der Erwerbstätigen hat sich auf 41 Millionen erhöht, und der Wirtschaftsmotor gewann an Fahrt.

Vielleicht noch folgenreicher als die Wirkungen der Gesetzesänderungen ist die Veränderung in den Köpfen: Hartz IV hat gerade in der Mittelschicht Spuren hinterlassen. Die Sorge vor dem wirtschaftlichen Abstieg rückte ins Bewusstsein. Die Befürworter sagen, der Mut zu Reformen habe sich für die Gesellschaft in mehr Jobs und einer höheren Wirtschaftsleistung ausbezahlt. Die Kritiker entgegnen, die Agenda 2010 habe vor allem dem Niedriglohnsektor und der Zeitarbeit Auftrieb gegeben. Unbestritten ist, dass die Agenda 2010 durch Liberalisierungen etwa in der Zeitarbeit zu neuen Problemen geführt hat. Die Mittelschicht ist aber nicht abgedriftet, wie das ursprünglich viele befürchtet haben.

Vor und nach der Agenda 2010 gab es Korrekturen

Der Berliner Wirtschaftsprofessor Wagner hält die Reform für überschätzt. Der Aufwind am Arbeitsmarkt und die Sicherung der Sozialsysteme wurden nach seiner Meinung durch Korrekturen erreicht, die vor und nach der Agenda 2010 stattfanden. Die Ursache für die wirtschaftlichen Erfolge war nach Meinung des Wissenschaftlers die jahrelange Lohnzurückhaltung in Deutschland.

Über die wichtige Rolle der Lohnpolitik sind sich die Experten einig. Während in Ländern wie Griechenland und Spanien vor der Finanzkrise die Löhne in die Höhe schossen, hielten sich die Tarifsteigerungen hierzulande seit Ende der 90er Jahre in engen Grenzen. Auf diese Weise ist die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestiegen. Die Agenda 2010 hat dabei geholfen, sie taugt aber nicht als Allheilmittel.