Rund um die Uhr hilft die Tierrettung Mittlerer Neckar kranken und verletzten Kreaturen. Sie sammelt hilflose Jungtiere ein und päppelt sie hoch, befreit eingeklemmte Tiere – und nebenher muss sie auch noch Sozialarbeit leisten.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Aichwald - Bitte“, fleht die Frau „bitte, nur noch eine Woche. Ich krieg’ doch auch einen Betreuer, bitte, bitte!“ Sie ist mager, klein, die Augen sind glasig verheult, die Wangen entzündet.

 

Jürgen Völker bekommt ihren Auftritt nicht mit. Der gewichtige, vollbärtige Chef der Tierrettung Mittlerer Neckar ist schon drin im Haus in der Nürtinger Altstadt. Die Frau hat seit wer weiß wie lange ihre Miete nicht bezahlt, der Gerichtsvollzieher lässt jetzt die Schlösser austauschen, damit die Frau keinen Zutritt mehr hat. Ihre zwei Katzen sind noch in der Wohnung, um die muss sich jetzt die Tierrettung kümmern.

Jürgen Völker war nicht zum ersten Mal hier. Er kennt die Frau, er hat noch gut ihren Freund in Erinnerung, der ihn angreifen wollte und übel beschimpfte, aber Jürgen Völker ist keiner, auf den man so einfach losgeht. Das hat der Freund dann auch gemerkt.

Immerhin, damals konnten die Tiere noch bleiben, weil das Pärchen versprach, die Miete zu zahlen. Es blieb bei dem Versprechen, jetzt ist Zapfenstreich. Die Frau muss die Wohnung räumen.

Plötzlich, aus einer Seitengasse taucht ihr Freund auf. Bleibt aber in sicherer Entfernung: „Merk dir die Autonummer, schlag denen das Auto kaputt!“, brüllt er seiner Freundin zu, die Frau fleht irgendetwas, rüttelt am Fensterladen.

Ein Passant grinst, führt einen Hund an der Leine aus. „Das geht so jede Woche.“ Angst vor dem Kerl da? „Den patsch ich weg!“ Die Polizei kommt mit zwei Streifenwagen, klärt die Sachlage. Der Freund hat sich inzwischen aus dem Staub gemacht. Die Frau muss die Wohnung räumen, darf aber die Katzen mitnehmen. Die Polizisten erklären ihr, sie müsse jetzt auf das Rathaus gehen. Das könne sie nicht, behauptet die Frau, sie habe Asthma, könne nicht gehen. Jürgen Völker rollt mit den Augen. Schließlich packt er die Frau, ihre grüne Reisetasche und die zwei Katzenkörbe hinten in den Tierrettungswagen und fährt sie die paar Hundert Meter zum Rathaus.

Einen solchen Einsatz, wo es zugleich um materielle und um psychische Verelendung geht, hat er im Schnitt einmal im Monat. Ein Prozent der 1200 Einsätze im Jahr. Nein, die Menschen täten ihm nicht mehr leid, sagt er, nur die Tiere.

Drei Autos unterhält die Tierrettung. Es sind Gebrauchte, weil sich die gemeinnützige Gesellschaft keine neuen Autos leisten kann. Heute hat er einen weißen Transporter dabei, der ein bisschen an einen Krankenwagen erinnert. Rost hat den Lack der Radläufe aufplatzen lassen, drinnen sind Katzenkörbe, verschiedene Fangkescher und Handschuhe verstaut. Was man eben braucht, um ein verletztes oder verängstigtes Tier zu bergen. 16 Aktive schaffen bei der Tierrettung, die Hauptlast tragen fünf Aktive, ganz vorne stehen Jürgen Völker und seine Frau Lenore. Sie sind rund um die Uhr erreichbar, sieben Tage die Woche. Sie leben in Aichwald bescheiden von dem, was die Tierrettung abwirft, in den Urlaub fahren können sie sowieso nie, weil sie für die Tiere da sein wollen. Ihre Hauptarbeitszeit liegt im Frühling, wegen der vielen verunglückten Jungtiere. Sie retten, bergen und versorgen alle Tiere, die Hilfe brauchen, Wild- und Haustiere gleichermaßen, auch exotische Tiere.

Am Berg schaltet Völker den Motor aus, weil der Kühltemperaturfühler spinnt, dann startet er wieder. 30 000 Euro hat er allein im letzten Jahr in seine Autos und in die Reparaturen gesteckt.

Die Frau aus Nürtingen schuldet ihm noch Geld vom letzten Einsatz. Er versteht es nicht. „Wenn die Leute kein Geld haben, könnten sie es doch bei mir abarbeiten, aber das macht dann niemand!“ Einmal im Monat geht er zu den Obdachlosen in Esslingen und behandelt ihre Hunde. Auch dort muss er um jeden Cent kämpfen. „Ich sag’ denen, wenn ihr Geld zum Saufen habt, dann habt ihr auch Geld für eure Tiere.“ Er weiß aber auch, dass die meisten Menschen an ihren Tieren hängen und sie nur in der Not im Stich lassen würden.

Jürgen Völker rollt schon wieder mit den Augen. Vom Rathaus in Nürtingen wird die Frau ins Industriegebiet zur städtischen Immobiliengesellschaft geschickt. Völker lässt sich breitschlagen, die Frau, ihre grüne Reisetasche und auch die zwei Katzen dahin zu bringen. „Die Menschen“, sagt er, „sind doch nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht.“

Jürgen Völker hat als Rettungssanitäter gearbeitet. Er hörte damit auf, als ihn ein Motorradfahrer, der gestürzt war, wegen Sachbeschädigung verklagen wollte. Völker hatte ihm die Hose aufgeschnitten, als er dessen offenen Bruch behandelte. „Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere“, sagte er nicht ohne eine leise Verbitterung in der Stimme.

Echte Dankbarkeit, Unverstelltheit, das bekommt er von den Tieren, das geben sie ihm. Er gibt ihnen: 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche sein ganzes Leben.

Da waren etwa ein Schwanenpaar – und der Blick eines Fuchses. Einmal waren auf dem Neckar junge Schwäne abgetrieben in Richtung Wendlingen. Er sammelte die Tiere ein, aber was tun mit ihnen? Da fiel ihm ein, dass am Wehr bei der Nürtinger Europabrücke Schwäne siedelten. Erst wollten sie den Tierretter angreifen, als er mit seinem Korb kam, doch als sie sahen, dass sie ihre Küken wieder bekommen würden, wurden sie friedlich, fast zahm.

Der Fuchs hatte sich im Gitter eines Gartenkompostierers verfangen. Jürgen Völker schnitt ihn heraus. Bevor der Fuchs verschwand, blieb er noch einmal stehen, blickte seinen Retter lange an. „Der hat sich bedankt bei Ihnen“, sagten die Polizisten, die mit am Einsatz beteiligt waren.

Völker ging nach seiner Zeit als Rettungssanitäter ins Ausland, schuftete viel, verdiente viel und fragte sich mit etwa 50 Jahren, ob es das gewesen sei: Geld verdienen, Geld ausgeben.

Er beschloss, sein altes Leben aufzugeben. Aber was heißt, sein altes Leben aufgeben? Es war ja kein Leben mehr für ihn. Jetzt, als Tierretter ist es ein ganzes Leben geworden. Das jeden Tag mit dem Anziehen des blauen Tierrettungskittels und der Sicherheitshose beginnt und endet, wenn er seine acht Hunde und seine Enten gefüttert und versorgt hat, die bei ihm zu Hause das Gnadenbrot bekommen.

Völker wurde damals schnell klar, dass er mit Tieren arbeiten wollte. Er machte eine Woche lang Praktikum bei einer Tierrettung in Oberbayern, und damit hatte er seine Berufung gefunden. Also gründete er die erste Tierrettung im mittleren Neckarraum, und seine Frau und seine beiden Söhne machten mit. Er übernahm eine Aufgabe, die bisher die Feuerwehren übernehmen mussten, obwohl es in ihren Reihen oftmals keine erfahrenen Tierretter gab.

Sechseinhalb Jahre ist das jetzt her. Der Schneeregen klatscht gegen die Frontscheibe seines Transporters. Zeit zum Träumen.

„Ein großes Grundstück“, sagt Jürgen Völker, „vielleicht 7000 Quadratmeter.“ Dort würde er wohnen wollen und zusammen mit einer Tierarztpraxis einen Gnadenhof unterhalten, auf dem Tiere ihre letzten Lebenswochen verbringen. Jedes Tier solle dort in Würde sterben können, statt beim Tierarzt eingeschläfert zu werden. „Wenn ich 30 wäre, dann würde ich einen Kredit aufnehmen und das machen.“ Jetzt fehlt es am Kapital, denn alles, was Völker hat, steckt in der Tierrettung.

Er fährt durch die Straßen von Nürtingen in Richtung Aichtal. Macht an der Kreuzung den Motor aus und wieder an. Der blöde Temperaturfühler. „Dort im Außengelände einer Sauna mussten wir mal eine Entenfamilie retten. Meine Kollegin wollte nicht rein, wegen der Nackigen.“ Er grinst. Schweigt. „Na, manchmal ist es auch lustig.“ Die Katzen miauen hinten, die Frau spricht beruhigend auf sie ein. Er biegt ab in Richtung Grötzingen. „Dort habe ich eine überfahrene Katze gefunden.“ Mit Glück kann er ein überfahrenes Tier zuordnen durch einen Chip oder eine Tätowierung. Wenn nicht, wird es eingeäschert. „Kein Tier kommt einfach in den Container“, sagt er.

Manchmal sieht er etwas in den Augen der Tiere. Eine alte Omi, erzählt er, wollte ihren kranken Hund einschläfern lassen. Doch Völker hat ihr 100 Euro auf den Tisch gelegt. Mit dem Geld wurde der Hund operiert. Nach vier Wochen war er wieder fit. Jürgen Völker hat es „einfach gesehen“, dass der Hund es schaffen würde.

Der weiße Wagen der Tierrettung hält auf einem verschneiten Parkplatz. Völker steigt aus, trägt die Katzenkörbe.

Die Frau schließt die Obdachlosenwohnung auf. Zunächst bringt sie die beiden Katzenkäfige in ihr neues Zuhause, vielleicht wäre es auch richtiger, von einer Unterkunft zu sprechen. Sie gibt Jürgen Völker die Hand, bedankt sich artig, sie weiß, dass er ihr einen Gefallen nach dem anderen getan hat, und ihr scheint klar zu sein, dass sie das nicht erwarten konnte.

„Ob sie dankbar war, das merke ich erst, wenn sie die 40 Euro gezahlt hat, die von der letzten Rechnung noch offen sind.“ Völker seufzt. Immerhin, die Rechnung von heute bezahlt letztlich der Vermieter, und der muss sich das Geld wieder von der Frau holen.

Er fährt in Richtung Aichschieß in seine Wohnung, um sich aufzuwärmen. Am Berg macht er wieder den Motor aus und wieder an. Ach ja, der Temperaturfühler.

„Manchmal bin ich vielleicht doch kein Arsch“, sagt er. Manchmal?