Die Akademie Schloss Solitude hat eine Stadtbegehung der etwas anderen Art angeboten: Der gebürtige Indonesier Kun Akaabir verschaffte seinen Zuhörern völlig neue Einsichten.

S-West -

 

Rund zwei Dutzend Menschen tummeln sich auf der Treppe, die am Fuße der Karlshöhe am beeindruckenden Gebäude Römerstraße 1 vorbei nach unten führt. Oder führt sie nach oben? Das ist eine Frage des Standpunkts, vielleicht auch der Sichtweise. Diese liegt Kun Akaabir besonders am Herzen. Am Samstag hat der 1982 im indonesischen Purwokerto geborene Rechtswissenschaftler, der derzeit als Stipendiat der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart-West weilt, zu einem partizipativen Stadtspaziergang geladen. Das Angebot ist Teil eines vom Bereich „Art, Science & Business“ veranstalteten zweiteiligen Festivals zum Thema „Biografien und die Produktion von Raum“.

„Was wir hier sehen, ist nur die äußere, die kleine Welt“, führt Akaabir, der sich wissenschaftlich mit anthropologischen und historischen Studien zu seiner Heimat beschäftigt in die traditionelle javanische Denkweise ein. „Die Jugendstilfassaden stechen ins Auge. Das Wesen der Gebäude und ihr Sinn liegen dahinter.“ Diese zweite Ebene, die wir nur intuitiv erfassen können, ist bedeutender. Sie ist es, die auch eine Verbindung zur spirituellen Welt ermöglicht. Ein Gedicht des javanischen Dichters Rangga Warsita stimmt die Teilnehmer darauf ein, den öffentlichen Raum mit anderen Augen zu betrachten. „Nun seien Sie selbst Poeten“, fordert Kun Akaabir. „Bitte folgen Sie mir schweigend und lassen Sie auf sich wirken, was Sie sehen. Achten Sie auf Zeichen, die Sie persönlich ansprechen.“

Ein Wirbel unterschiedlich ausgerichteter Pfeile

„Ich fühlte mich zunächst ein bisschen unter Druck, zu einer bahnbrechenden Erkenntnis zu gelangen“, beschreibt Daniel Danzer hinterher, wie es ihm auf dem Weg die Tübinger Straße hinunter zur Kirche St. Maria ergangen ist. Letztlich hörte der 52-Jährige Drehbuch- und Spieleautor dann aber einfach auf nachzudenken. Als am Zielort Straßenkreiden verteilt werden und jeder seine Wahrnehmungen grafisch umsetzen soll, entwirft er ohne Zögern einen Wirbel unterschiedlich ausgerichteter Pfeile. „Das sind all die Ideen, die diesen Ort zu dem machen, was er ist“, erklärt Danzer. „Jede Laterne, jeder Pflasterstein, alles ist so wie es ist, weil es irgendjemand genau so haben wollte. Vieles passt streng genommen gar nicht zusammen und doch ist es Eins und bildet zusammen den Charakter dieses Straßenzugs.“

Einem anderen Herrn sind die Taubenabwehr-Stacheln und die Krawatten in einer Hochzeitsgesellschaft aufgefallen. Auf dem Pflaster verdichtet er sie zu einer neuen Struktur. Am Ende ist der Raum vor dem Gotteshaus durch die flüchtigen Spuren der Gruppe neu gestaltet. Auch ein paar Kreiden bleiben zurück, als sie sich auf den Rückweg macht. „Das ist eine Einladung an Passanten, sich ihre eigenen Gedanken zu machen und selbst kreativ zu werden“, erklärt Sophie-Charlotte Thieroff, Akademie-Referentin für „Art, Science & Business“ und fügt hinzu: „Wir versuchen neue Formen zu finden, Kunst in den öffentlichen Raum zu tragen. Es ist toll, dass das heute so gut glückt ist.“

Von der Vielfalt an Ideen beeindruckt

Alle haben sich eingebracht. Frei von Berührungsängsten. Dabei hatte sich die Hälfte der Teilnehmer noch nie zuvor gesehen und niemand im Vorfeld gewusst, was genau passieren würde. „Ich habe das Gefühl, dass wir alle zum Nachdenken angeregt wurden“, fasst Lilli Plodeck, die eigens aus München angereist ist, ihren Eindruck von der Stadtbegehung zusammen. Die Kursleiterin an der Schule der Fantasie in Gräfeling ist vor allem von der Vielfalt an Ideen beeindruckt, sie sich bei der Präsentation der Zeichnungen herauskristallisierte. Der Gedanke etwa, wie absurd es ist, dass überall Fahrzeuge herumstehen, die nicht fahren und dass gerade diese ungenutzten Vehikel das Stadtbild prägen und Fußgängern wie Parkplatzsuchenden im Weg sind, ist zumindest eine nähere Betrachtung wert.