Alain Platel erzählt in „Nicht schlafen“, wie der Krieg zu den Menschen kam.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Ludwigsburg - Musik, sagte Alain Platel bei seinem Gastspiel in Ludwigsburg vor zwei Jahren, sei für ihn die stärkste der Künste, sie habe etwas sehr Tröstliches. Damals brachte der belgische Choreograf in „En avant, marche!“ Blasmusik und die Geschichte eines Sterbenskranken zusammen. An diesem Wochenende war Platel mit seiner in Gent beheimateten Kompanie, den Ballets C de la B, wieder zu Gast bei den Schlossfestspielen.

 

Auch in „Nicht schlafen“, seiner neuen Tanzproduktion, die vor neun Monaten bei der Ruhrtriennale herauskam, ist die Musik verblüffend dominant. Tröstliches hat diese Collage aus Symphonien Gustav Mahlers aber wenig. Sie ist so sehr pulsierender Klangaufruhr, dass alle Gewalt, die hier in 100 Minuten passiert, tatsächlich von der Musik auszugehen scheint: Wir sehen neun Tänzer, acht Männer und eine Frau, in einem von einem löchrigen Tuch begrenzten Raum - auf sich gestellt, jeder jedem und sich selbst ausgeliefert.

Das ist vor allem beklemmend. „Nicht schlafen“ hat aber auch schöne, hoffnungsvolle Momente, wenn die Tänzer in polyfonem Gesang oder in synchronen Gruppenszenen einträchtig agieren, wenn zwischen Mahler die Soundlandschaften des niederländischen Komponisten Steven Prengels versöhnlich stimmen und sich die Tänzer vor ihnen näher kommen.

Jede Geste sitzt, und jede Bewegung ist perfekt

Weil sie das in Ludwigsburg tatsächlich schon in der hundertsten Vorstellung tun, sitzt jede Geste, ist jede Bewegung perfekt. Doch von Beginn an gibt eine Installation der belgischen Künstlerin Berlinde de Bruyckere der Szene eine unheilvolle Stimmung. Zwei ausgestopfte Pferde liegen im Hintergrund, bizarr ineinander verwoben, hingestreckt und aufgedunsen wie Kriegskadaver.

„In Flanders Fields“ heißt ein Skulpturenensemble Bruyckeres, auf das diese Pferde anspielen. Auf den Feldern Flanders tobte vor hundert Jahren der Erste Weltkrieg, den Alain Platel aus der Musik Mahlers herauszuhören meint. Wie eine Furie lässt er sie in die Tänzer fahren, sie aus ihrem stillen, um die Pferdekörper gruppierten Ritual holen, sie aufeinander losgehen, dass Kleiderfetzen bis ins Publikum fliegen.

Gesänge aus dem Kongo und Glöckchen an den Fußfesseln, Fluchten ins Ballettöse mit kunstvoll geführten Armen und einer Folge von Attitüden und Sprüngen sind nur Zwischenspiele. Denn auf Tänze und Küsse folgen in „Nicht schlafen“ jede Menge Schläge, bis einer nicht mehr aufsteht; Gewalt wird so zu einer Art Naturkatastrophe, der die Menschen seit einem Jahrhundert ohne Aussicht auf Rettung ausgesetzt sind. Doch weil Gewalt menschengemacht ist, vermisst man im Verlauf des Stücks immer schmerzlicher die Vision eines Auswegs - schließlich ist Alain Platel nicht nur Choreograf, sondern auch ausgebildeter Heilpädagoge. Der Blick von der Bühne in die Welt zeigt freilich, dass er mit seinem auf der Stelle tretenden Kreislauf der Gewalt, der zu vielen den Schlaf raubt, leider nicht falsch liegt.