Russland und die Assad-Truppen wollen die Bewohner und die Rebellen von Aleppo zur Flucht zwingen.

Aleppo - Ihr wichtigstes Kriegsziel verloren Wladimir Putin und Bashar al-Assad nie aus den Augen – die Rückeroberung Aleppos. Die UN-Gespräche in Genf dienten ihnen als Deckmantel. Bisweilen mussten sie ihre Offensive durch kurze, von Washington erzwungene Feuerpausen unterbrechen. Mitte Juli war es dann soweit, als es den beiden Alliierten erstmals seit vier Jahren gelang, die letzte Nachschubstraße zu kappen und die Rebellenviertel der zweitgrößten Stadt Syriens komplett von der Außenwelt abzuschnüren. Seitdem versuchen ihre Militärplaner, Panik unter den Eingeschlossenen zu schüren, um sie gefügig zu machen. Hubschrauber warfen tausende Plastikbeutel mit Marmelade, Tee und Zucker ab zusammen mit Flugblättern, die die Bewohner auffordern, ihre Stadtbezirke zu evakuieren.

 

Drei Fluchtrouten für Zivilisten sowie eine für bewaffnete Rebellen sind auf den Zetteln markiert, die alle auf Territorien des Regimes enden. Moskaus Verteidigungsminister Sergei Shoigu etikettierte das Ganze als „großangelegte humanitäre Operation“, während Damaskus allen Kämpfern Amnestie zusicherte, wenn sie sich ergeben und ihre Waffen aushändigen. Die meisten jedoch trauen dem Regime nicht und fürchten, eine Kapitulation mit Gefängnis oder Tod zu bezahlen.

Komplette Rückeroberung ist näher gerückt

„Rausgehen oder nicht – jede Minute diskutieren wir darüber“, zitierte die „New York Times“ den örtlichen Photographen Luay Barakat. Mit ihrer Aktion wollten Russland und Assad-Regime der internationalen Gemeinschaft lediglich Sand in die Augen streuen, argwöhnte ein anderer Aktivist. Für die eingeschlossenen Menschen aber bedeute diese Ankündigung, „dass uns das Schlimmste noch bevorsteht“.

Bashar al-Assad triumphiert – eine komplette Rückeroberung Aleppos ist in greifbare Nähe gerückt. Den Rebellen dagegen droht eine verheerende Niederlage, die eine entscheidende Wende in dem mehr als fünfjährigen Bürgerkrieg bedeuten könnte. Das Regime bräuchte nicht mehr ernsthaft über eine Teilung der Macht zu verhandeln. Und die verbliebenen 300 000 Bewohner im aufständischen Teil der einstigen Handelsmetropole wären den Machthabern hilflos ausgeliefert.

Vororte an Regierungstruppen verloren

Erst Anfang der Woche hatten die Verteidiger zwei weitere Vororte an die Regierungstruppen verloren, unter anderem, weil sie gleichzeitig von kurdischen YPG-Einheiten angegriffen wurden, die an anderen Fronten mit US-Spezialkräften kooperieren. Eine Rückeroberung der für den Ostteil Aleppos lebenswichtigen Castello-Straße ist inzwischen völlig illusorisch. Mitte der Woche konnte das Assad-Regime auf dem Nachschubkorridor zur türkischen Grenze erstmals wieder eigene Kontrollpunkte installieren. Der Straßenbelag ist durch den permanenten Bombenhagel so stark zerstört, dass normale Autos, geschweige denn Lastwagen mit Lebensmitteln oder Medikamenten ihn nicht mehr befahren können.

„Es ist ein Desaster, das die Menschen in Aleppo in jedem Winkel ihres Lebens betrifft“, zitiert die Website „Syria direct“ den lokalen Reporter Ammar al-Halabi. Die Lebensmittelpreise steigen ins Astronomische. Auf den Märkten häufen sich die Handgemenge. Frisches Obst und Gemüse sind praktisch nicht mehr zu bekommen, während Regime und russische Luftwaffe die Wohnviertel rund um die Uhr bombardieren. Allein in dieser Woche wurden vier weitere Kliniken beschädigt. Die Berichte von Mitarbeitern seien „entsetzlich“, erklärte die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, deren letzte Hilfslieferung Ende April die stark zerstörte Stadthälfte erreichte. Bis zu 50 Verletzte pro Tag würden momentan in die verbliebenen Krankenhäuser gebracht. „Wenn die Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen nicht aufhören, wird es im Osten Aleppos bald keinerlei medizinische Versorgung mehr geben.“

Alle Lichter löschen

Der Zivilschutz beschwöre die Familien, „in ihren Häusern zu bleiben und alle Lichter zu löschen“, berichtet Abdelkareem al-Omar, Helfer aus dem Stadtteil Atareb. „In Atareb gibt es kein Leben mehr“, sagte der 28-Jährige. „Nur noch Trauer, Verzweiflung und Angst.“

Derweil gab die radikale Al-Nusra-Front bekannt, sie werde ihre Verbindung zur Al Qaida-Führung in Afghanistan offiziell kappen und sich in Syrische Eroberungsfront („Jabhat Fateh al-Sham“) umbenennen. Zur Begründung erklärte Kommandeur Abu Mohammed al-Jolani in einer Video-Botschaft, er wolle den Vereinigten Staaten und Russland den Vorwand nehmen, weiterhin die Stellungen seiner Rebelleneinheiten zu bombardieren. Der Schritt, der sich seit Tagen ankündigte, ist ein primär taktischer Schachzug, zumal al-Jolani damit keine ideologische Neuausrichtung verknüpfte. Der Chef des US-Inlandsgeheimdienstes, James R. Clapper, sprach dann auch von einer PR-Aktion. Die radikalen Rebellen wollten lediglich mehr moderate Kämpfer anlocken und weniger Luftangriffe auf sich ziehen.

Die Al-Nusra-Front, die schätzungsweise 5000 bis 10 000 Extremisten kommandiert, ist wie der „Islamische Staat“ von der im Februar ausgerufenen, internationalen Waffenruhe in Syrien ausgeschlossen. Vor drei Wochen verständigten sich die Vereinigten Staaten und Russland darauf, ihre Militäraktionen gegen die beiden Terrorgruppen zu intensivieren und enger zu koordinieren.