Alexander Gerst wurde als Social-Media-Astronaut bekannt, Thomas Reiter war einer seiner Vorgänger als Raumfahrer. Ein Doppelinterview über Reisen zum Roten Planeten, Frauen in der Raumfahrt und den beeindruckenden Blick aus dem All.

Stuttgart - Alexander Gerst kann nicht entkommen. Hier die Reporter, dort der Raumfahrer, dazwischen ein runder Stehtisch: die Demarkationslinie. Die Radioreporter recken ihre Arme, um die Mikrofone so nahe wie möglich an Gersts Mund zu bekommen, die Kameras drängen sich zwischen die Printreporter mit ihren Schreibblöcken und versuchen, möglichst wenige Hinterköpfe im Bild zu haben. Hinter Gerst ist eine Wand, weg kann er nicht. Ob er wollte?

 

Ein Interview mit Alexander Gerst ist anders als andere Interviews. Es genügt nicht, einen Termin auszumachen. Penetranz ist zwingend, wenn man seine Fragen loswerden möchte. Die Aufgabe: ein Doppelinterview mit Alexander Gerst, in ganz Deutschland als Astro-Alex berühmt geworden, und mit Thomas Reiter, einem seiner Vorgänger als Raumfahrer. Der Ort: das Rathaus von Künzelsau, am Rande einer Ausstellungseröffnung, die Gerst und Reiter besuchen. Vor Ort beginnt der Kampf um die O-Töne. Nachdem Gerst alle lokalen Radiohörer und alle Künzelsauer gegrüßt hat, entsteht eine kurze Pause. Reingrätschen!

Herr Gerst, Sie haben von Ihrer letzten Mission über die sozialen Medien bedrückende Bilder geschickt, die die miserable Lage unseres Planeten deutlich gemacht haben. Jetzt heißt es, Sie wollen zum Mond, vielleicht sogar zum Mars. Suchen Sie eine neue Heimat für die Menschheit?
GerstNein, ich bleibe bei meiner Überzeugung: Wir haben keinen Planeten B. Wir sollten uns um Planet A kümmern. Das ist eine meiner wichtigsten Botschaften an meine Mitmenschen. Es ist heute völlig unklar, ob wir jemals einen neuen Planeten besiedeln werden. Zumindest wird das noch lange dauern. Wir sollten besser die Erde schützen.
Würden Sie denn zum Mars reisen, wenn sich Ihnen die Chance böte?
Gerst Natürlich. Aber bis Menschen zum Mars reisen, ist noch vieles zu klären. Allein der Versorgungsweg: Die Raumstation ISS hat den Vorteil, dass die Erde nah dran ist. Wir haben gut gelernt, auf ihr zu leben, doch jetzt sind wir bereit für den nächsten Schritt weiter nach draußen. Der Weg zum Mars wird kompliziert, beispielsweise wenn es um den Nachschub von Lebensmitteln geht.
Wenn das alles so schwierig ist: Wieso ist eine Reise zum Mars denn wichtig?
Gerst Der Mars könnte uns Antworten darüber geben, woher wir kommen. Der Mars war einst der Erde ähnlich, jetzt ist er wüst und leer. Wie können wir vermeiden, dass uns ein ähnliches Schicksal ereilt? Dieser Frage können wir bei einer Mars-Mission auf die Spur kommen. Der Mars kann uns wichtige Erkenntnisse über uns selbst liefern – über den Ursprung des Lebens und ob wir alleine sind im Universum.
Ist es nicht eher unwahrscheinlich, dass dieses Leben, das Sie da draußen suchen, dem unseren ähnlich ist?
Gerst Das wollen wir herausfinden. Wenn es auf dem Mars Leben gibt, das unserem ähnlich ist, ist die Chance groß, dass wir aus der gleichen Quelle stammen. Vielleicht hat sich dieses Leben über Kometen im Universum verteilt. Oder wir finden dort Leben, das unserem überhaupt nicht gleicht und das unabhängig von uns entstanden ist.
Sollten wir nicht besser das viele Geld, das solche Projekte kosten, in die irdischen Probleme investieren?
Gerst Die Raumfahrt löst große irdische Probleme: Wir lernen etwas über den Klimawandel, über das Wetter, über Bedrohungen aus dem Weltraum. Und wir erforschen Krankheiten. Wir haben die Möglichkeit und auch die Verantwortung, unseren Lebensraum zu erkunden. Deshalb steht der Mars für mich nicht infrage.

Der Pressesprecher der Europäischen Weltraumbehörde (Esa) unterbricht das Gespräch mit gestresstem Blick und einem irdischen Anliegen. „Wir müssen noch den Rundgang machen, bevor die Eröffnung beginnt.“ Gerst zeigt den Fotografen brav die Ausstellung, dabei kommt er an einem Modell des europäischen Forschungslabors Columbus vorbei, darin hat jemand eine Barbiepuppe drapiert. Gerst erspäht ein kleines Mädchen. „Da haben wir ja schon eine künftige Astronautin!“ Das Mädchen versteckt sich schnell hinter den Beinen seiner Mutter.

Herr Reiter, was hat diese Barbie zu bedeuten – hofft die Esa auf mehr Frauen in der bemannten Raumfahrt?
Reiter Auf jeden Fall. Deshalb sagen wir jetzt nicht mehr bemannte Raumfahrt, sondern astronomische Raumfahrt. Sonst würden wir die Frauen ja schon rein sprachlich ausschließen.
Worauf legen Sie bei der Astronautenauswahl am meisten wert? Alexander Gerst wurde als Social-Media-Astronaut bekannt – müssen künftige Bewerber die Raumfahrt besonders gut verkaufen können?
Reiter Das ist sicher ein wichtiges Kriterium: Wie gut können diese Leute kommunizieren? Es geht nicht nur um den naturwissenschaftlichen Hintergrund, Astronauten müssen auch gute Teamplayer sein. Darauf wird heute mehr geachtet, weil man sieht, wie wichtig es ist, diese Arbeit zu kommunizieren.
In der Tat. Angesichts der Kosten der bemannten Raumfahrt brauchen Sie wohl gute Marketingleute . . .
Reiter Na ja, das mit den Kosten hat sich gerade relativiert. Es gibt eine aktuelle Studie, nach der sich die Raumfahrt ökonomisch rentiert. Wir wissen jetzt: Die Investitionen in die Raumfahrt lohnen sich. Wir brauchen diese Diskussion über den Nutzen nicht mehr zu fürchten.
Gerst Das brauchen wir sowieso nicht. Wichtig ist doch auch die Botschaft, die wir mit der Raumfahrt vermitteln. Einerseits für Menschen wie dieses kleine Mädchen hier. Ich ermutige sie und alle anderen Kinder: Glaubt an euren Traum! Setzt euch dafür ein, dass eure Wünsche wahr werden. Und andererseits die Warnung: Schützt unseren Planeten, er ist klein und verletzlich.
Reiter Neben diesem unmittelbaren Nutzen gibt es auch einen weiteren: Inspiration. Menschen sind neugierig und schauen, was hinter dem Horizont liegt. Wir sind Entdeckertypen. Das fing schon mit Kolumbus an. Wir sind neugierig.

Der Esa-Pressesprecher zupft Gerst am Ärmel. Er muss noch für die Fotografen posieren. Er stellt sich neben das Sojusmodell mit seinem Pappmaché-Doppelgänger darin und grinst in jede Kamera. Eine gute Gelegenheit, um den Pressesprecher am Ärmel zu zupfen. Was ist mit dem Interview? Er wirft der Rathaussprecherin einen fragenden Blick zu, die deutet unauffällig auf eine Tür. Als der Tross weiterzieht, schiebt uns der Pressesprecher durch diese Tür in einen dunklen Flur. Fünf Finger hält der Pressesprecher in die Luft, das heißt wohl fünf Minuten.

Herr Reiter, wie geht es Ihnen denn mit dieser jungen mitteilsamen Generation von Astronauten? Übt das nicht Druck aus auf Sie?
Reiter Ich muss zugeben, ich habe keinen Twitter-Account und bin nicht auf Facebook. Wenn man mit solchen Sachen groß wird, ist das viel einfacher, als wenn man sich in fortgeschrittenem Alter da reinarbeiten muss. Alex, du warst als Social-Media-Astronaut unterwegs und hast den entscheidenden Beitrag geleistet, dass die Stimmung in Deutschland jetzt so gut ist. Kanzleramtschef Altmaier hat neulich gesagt: Herr Gerst hat mehr Twitter-Follower als alle Bundestagsabgeordneten zusammen.
Herr Gerst, haben Sie das Gefühl, mit Ihren Bildern und Botschaften etwas bewegt zu haben?
Gerst Schwer zu sagen. Vieles, was unsere Welt verändert, geschieht in kleinen Schritten. Von daher hoffe ich schon, dass ich etwas angestoßen habe.
Ist dieser Blick auf die Erde mit all den Zerstörungen und Kriegen, die Sie ja eindrücklich beschrieben haben, nicht ernüchternd?
Gerst Ja, auf alle Fälle ist das ernüchternd zu sehen, was die Menschen mit dem Planeten machen. Mir war nicht klar, wie viel Amazonas schon fehlt. Das kann man von oben deutlich sehen. Oder die dünne Atmosphäre. Ich bin Geophysiker, ich weiß schon vieles, aber schon vieles, aber das hat mich umgehauen. Ich biete an: Schaut meine Bilder an, schaut durch meine Augen.
Reiter Das geht wohl allen Astronauten und Kosmonauten ähnlich: Dieser Blick ist so eindrücklich und manchmal auch bedrückend. Ich freue mich immer, wenn ich Alex bei seinen Auftritten zuhören kann. Ich muss manchmal schmunzeln und sage mir: „Mensch, das ist ja genauso, wie du das damals erlebt hast.“ Das ist schön!
An welchen Stellen stoßen Sie denn beim Publikum auf Verwunderung?
Gerst Wenn man beschreibt, wie das ist im Raumschiff beim Start: Die Leute glauben immer, man müsse wahnsinnig aufgeregt sein. Dabei wird man im Gegenteil immer ruhiger, weil man weiß, dass nichts mehr dazwischenkommen kann. Man freut sich: Endlich habe ich es bis hierhin geschafft. Das verstehen nur Astronauten.
Haben Sie keine Angst?

Gerst Als Astronaut geht man mit dem Risiko anders um. Wir haben uns ja alles vorher genau angeschaut. Wir haben jahrelang trainiert – auch wie wir im Notfall reagieren können.

Wenige Menschen haben diese Erfahrung je gemacht – die Erde von außen zu sehen, auf der ISS zu leben. Wie wichtig ist der Austausch unter Gleichgesinnten über den Alltag im Weltraum?
Gerst Das tut gut. Beim Thema Weltraumessen zum Beispiel gibt’s auch immer was zu reden.
Reiter Da hat sich über die Jahre nicht viel geändert. Wir hatten immerhin einen Bonuscontainer mit eigenen Nahrungsmitteln, die man im Vorfeld sorgfältig auswählen musste.
Gerst Wir haben sieben Bonuscontainer. Ich habe viele verschiedene Sachen eingepackt, weil ich schon wusste, es kann immer sein, dass sich dein Geschmack verändert. Dann muss man eben die anderen einladen.
Reiter Ja, man tauscht sich so durch. Ich hatte immer viel Knabberzeug dabei. Und dann gab es im normalen Sortiment immer diesen Quark mit den Haselnuss-Splittern, legendär!
Gerst Ja, den gibt es heute noch, den würde ich auch auf der Erde jederzeit freiwillig essen.
Reiter Ein Nasa-Kollege hatte immer Tuben dabei mit Knoblauchpaste. Das war eine hervorragende Wahl. Es ist genau, wie Alex gesagt hat: Der Geschmack ist im Weltraum etwas gedämpft.
Essen tauschen und auf engem Raum zusammenleben: Das klingt so, als wenn allein die Umstände auf der Raumstation zusammenschweißen.
Gerst Ich habe dort gute Freunde gefunden: Mit meinen beiden Missionskollegen aus Russland und den USA stehe ich bis heute in engem Kontakt. Und gleichzeitig ist es ein Signal: Wenn es möglich ist, dass drei Nationen im Weltraum so eng zusammenarbeiten, ist das eine Perspektive für die Menschheit.
Jetzt bauen die Chinesen eine eigene Raumstation, und alle reden davon, dass sie zum Mars wollen. Gibt es ein neues Wettrennen ins All?
Reiter Das würde ich nicht sagen. Konkurrenz belebt das Geschäft. Bis heute funktioniert ja die Zusammenarbeit mit fünf Raumfahrtagenturen bei der ISS gut. Gerade geht es darum, wie man sich auch für China öffnen kann.

Der Esa-Sprecher schiebt die Glastür zum Flur auf. Er ist rot im Gesicht und zeigt auf seine Uhr. Die fünf Minuten sind längst um. „Man wartet auf Sie, Herr Gerst!“ Es bleibt Zeit für zwei knappe Fragen im Treppenhaus.

Wie lief es mit dem Kontakt zu den Lieben auf der Erde? Hatten Sie Heimweh?
Gerst Heutzutage ist es einfach, Kontakt zu halten. Man hat so gute Kommunikationsmöglichkeiten: Ich konnte Mails schreiben und meine Freunde und Familie einfach anrufen. Das war vom Weltraum aus einfacher als während meines Trainings in Houston: Von dort beträgt die Zeitverschiebung sieben Stunden, während auf der ISS Weltzeit ist, was zu Deutschland nur eine Stunde Unterschied ausmacht.
Das alles war bei Ihnen vermutlich anders, Herr Reiter?
Reiter Auf der russischen Raumstation Mir gab es damals nur operationelle Kommunikation. Für die Familie war man ein halbes Jahr weg, unerreichbar. Es gab ein oder zwei Live-Video-Interviews, das war’s.

Unten warten die Gäste, der Pressesprecher geleitet Gerst nach vorne, wo er wieder etwas erzählt über seine Mission und unsere verletzliche kleine Welt. Thomas Reiter steht unscheinbar daneben, keiner nimmt von ihm Notiz. Die wenigsten erkennen ihn. Jetzt läuft Gerst ihm den Rang ab, wird sogar erster deutscher ISS-Kommandant.

Sind Sie nicht manchmal neidisch auf Herrn Gerst?
Reiter Nein, alles hat seine Zeit. Es war eine tolle Lebenserfahrung. In jedem Beruf gibt es Generationswechsel. Wenn ich Alex’ Vorträge höre, denke ich manchmal schon: Hach, gegenüber der Arbeit am Schreibtisch wäre es jetzt schön, noch mal da oben zu sein. Vielleicht bin ich doch ein bisschen neidisch.

Das hört Alexander Gerst im Vorbeigehen und flüstert seinem Kollegen grinsend zu: „Ich hoffe, du bist neidisch. Ich wäre neidisch, wenn ich du wäre.“

Zu den Personen Gerst und Reiter

Alexander Gerst(3. 5. 1976) fliegt 2018 zum zweiten Mal zur ISS. Er wird der erste deutsche Kommandant der Station.

Thomas Reiter (23. 5. 1958) hat insgesamt 350 Tage im All verbracht. Heute ist er Esa-Funktionär.