Weihnachten ist die Zeit der Geschichten. Der algerische Erzähler Charles Aceval lebt seit vielen Jahren in Weil im Schönbuch und weiß, wie man selbst Teenager in seinen Bann zieht.

Wer die Wohnung von Charles Aceval und seiner Frau in einer ruhigen Seitenstraße von Weil im Schönbuch betritt, wähnt sich auf einmal in einer anderen Welt: an den Wänden hängen dicke Teppiche, in Körben stehen Trommeln und Flöten, im Wohnzimmerschrank reihen sich Märchenbücher aus aller Welt. Für Besucher serviert der algerische Märchenerzähler Minztee und Datteln, frisch aus Algerien eingeflogen.

 
Herr Aceval, haben Sie schon einmal die Weihnachtsgeschichte erzählt?
In meinen Erzählungen kommt Weihnachten durchaus vor, zum Beispiel in der Geschichte vom Wasserträger von Cordoba. Aber bei mir ist es so, dass eine Geschichte mich finden muss, damit ich einen Zugang zu ihr finde. Bei der Weihnachtsgeschichte ist mir das bislang nicht passiert.
In Ihrem Bücherregal steht eine Ausgabe des Korans neben der Bibel. Was bedeutet Religion für Sie?
Ich bin in Algerien aufgewachsen, einem muslimischen Land, aber in meiner Jugend wurde Religion weniger engstirnig ausgelegt. Muslime haben damals mit Christen und Juden zusammengelebt. Die ganze Menschheit hat doch das gleiche Erbe: es ist wie eine Quelle, deren Wasser rein und klar ist. Aber die Vertreter der unterschiedlichen Religionen streiten sich darüber, welches der richtige Weg zu dieser Quelle ist. Deshalb trennt die Religion Menschen.
Die orientalischen Märchen, die Sie erzählen, haben viele Gemeinsamkeiten mit den Gleichnissen aus der Bibel. Das ist kein Zufall, oder?
In den meisten Geschichten geht es um Erlebnisse, die alle Menschen teilen: um Geburt, Liebe, Gott, das Sterben. Wir erzählen, weil wir sterblich sind. Wenn wir unsterblich wären, würde es keine Geschichten geben.
Sie haben die Kunst des Märchenerzählens von Ihrer Mutter gelernt. In Ihrer Kindheit bei einem Nomadenstamm in der algerischen Wüste gab es wenig Ablenkungen. Aber wenn Internet, Fernsehen und Smartphones immer und überall verfügbar sind – wofür brauchen wir Erzählungen?
Viele Leute kommen zu mir und sagen, dass meine Geschichten ihnen geholfen haben. Die gleiche Erzählung kann für jeden Zuhörer eine andere Bedeutung haben. Für mich sind Märchen wie Geschenke. So wie man diese einpackt und dekoriert, so schmücke ich meine Geschichten mit meinen Sprachbildern. Wenn ich erzähle, mache ich meinen Zuhörern ein Geschenk – und ihre Reaktion ist dann ihr Geschenk an mich.
Kann Erzählen helfen, das eigene Leben besser zu bewältigen?
Bei mir war das so. Ich durchlebte vor zehn Jahren eine schwere Zeit. Als ich mich auf die Geschichten meiner Mutter besonnen habe, war das meine Rettung.