Voraussichtlich noch in diesem Jahr kommt in Deutschland ein Medikament auf den Markt, das Alkoholikern hilft, weniger zu trinken. Somit könnte in der Therapie der Abhängigkeit ein neues Kapitel aufgeschlagen werden.

Stuttgart - Von Alkohol ist man immer umgeben. Es gibt das Gläschen Prosecco beim Stehempfang, den guten Wein zum Essen, das Bier in der Kneipe, und in der Faschingszeit scheint sowieso jeder mal einen über den Durst zu trinken. Doch für viele Menschen ist diese Allgegenwart gefährlich, da sie in eine Sucht rutschen.

 

„Zwei Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholsüchtig. Das sind etwa drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung“, sagt Karl Mann vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. „Und mehr als sieben Millionen Personen greifen so häufig zur Flasche, dass sie suchtgefährdet sind.“ Mann hat an der Universität Heidelberg die erste Professur für Suchtforschung in Deutschland inne. „Nur etwa zehn Prozent der alkoholabhängigen Personen sind in Behandlung“, sagt er. Zum einen gebe niemand gerne zu, an der Flasche zu hängen. Zum anderen: „Die Hürde, gar nichts mehr zu trinken, ist für viele Alkoholiker zu hoch.“ Doch Ziel einer Therapie sei bisher die absolute Abstinenz.

Das könnte sich ändern: Vermutlich im Spätsommer kommt ein Medikament zur Reduktion des Alkoholkonsums auf den Markt. Das Mittel heißt Nalmefen und wurde kürzlich von einem Expertengremium der europäischen Arzneimittelbehörde EMA positiv bewertet, so dass einer Zulassung nichts mehr im Weg stehen dürfte. In mehreren internationalen klinischen Studien hat sich die Substanz bewährt: Alkoholiker konnten durch die Pille ihren Konsum deutlich reduzieren.

Mehr als 2000 Personen nahmen an den Studien teil, an denen auch Karl Mann als Studienleiter beteiligt war. Seine Arbeit wurde kürzlich in der Fachzeitschrift „Biological Psychiatry“ publiziert. Die Teilnehmer hatten vor Studienbeginn im Durchschnitt 10,5 „Standardgetränke“ zu sich genommen – das entspricht etwa anderthalb Flaschen Wein pro Tag. Mit Nalmefen konnten sie die Menge im ersten Monat um mehr als 40 Prozent senken. Am Ende der Studien nach einem halben oder einem Jahr waren es mehr als 60 Prozent – das entspricht etwa einer Flasche Wein weniger. Die Nebenwirkungen seien nur vorübergehend gewesen, sagt Mann: Einige Testpersonen berichteten über Unwohlsein, leichten Schwindel und Kopfschmerzen. Wichtig sei: das Mittel sediere nicht.

Doch auch die Vergleichsgruppe, die ein Placebo erhielt, reduzierte ihren Alkoholkonsum. Die Personen, die ein Scheinmedikament bekamen, wurden wie die Probanden aus der Medikamentengruppe zunächst zweimal im Monat, später noch einmal monatlich in einem 20-minütigen Gespräch zu ihrem Trinkverhalten und Lebensstil befragt und beraten. „Die Beratung schärft das Bewusstsein für die Problematik und unterstützt den neuen, reduzierten Umgang mit Alkohol“, so Mann.

Endorphine werden ausgeschüttet

Der Wirkmechanismus von Nalmefen ähnelt dem von Naltrexon, das schon seit Jahren auf dem Markt ist. Dieses Mittel wird jedoch nur eingesetzt, um abstinente Menschen zu unterstützen. Beide Medikamente wirken auf das körpereigene Opiatsystem. Kommt Alkohol im Gehirn an, werden Endorphine ausgeschüttet. Das ist der Grund für die euphorisierende Wirkung des Alkohols. Durch die Endorphine wird außerdem der Neurotransmitter Dopamin freigesetzt, der erneut zum Glas greifen lässt – Dopamin ist im Prinzip für die freudige Erwartung verantwortlich. Durch Nalmefen werden die Rezeptoren, an denen die körpereigenen Endorphine andocken, besetzt. So soll verhindert werden, dass die Substanzen ihre Wirkung entfalten.

„Obwohl sich das Wirkprinzip von Nalmefen und Naltrexon ähnelt, sollen sie ganz unterschiedlich eingesetzt werden“, erklärt Karl Mann. Aufgrund der Zulassungsstudie werde Naltrexon vor allem abstinenten Patienten verordnet. Ihnen soll es helfen, weiterhin trocken zu bleiben. Nalmefen hingegen könne auch denjenigen helfen, die noch keine absolute Abstinenz wünschen oder schaffen, aber dennoch ihren Alkoholkonsum reduzieren möchten. Vielen Alkoholabhängigen fällt es vor allem zu Beginn einer Therapie leichter, den Konsum zunächst zu senken.

Somit könnte, sagt Mann, in der Behandlung der Abhängigkeit ein neues Kapitel aufgeschlagen werden: „Im Prinzip könnte der Hausarzt zusammen mit einer sogenannten Kurzintervention das Mittel verschreiben.“ In der Kurzintervention müsse das Problem Alkoholismus angesprochen werden. Der Hausarzt kenne seine Patienten besser als jeder andere Arzt. Bisher werde das Problem Alkohol tabuisiert, sagt Mann, weil man als Hausarzt kaum eine Möglichkeit habe, außer: den Patienten in den Entzug zu schicken.

Doch auch für die sozial abgesicherten Alkoholiker in angesehenen Berufsfeldern, in denen das Trinken eines Gläschens Sekt oder Wein gewissermaßen zum sozialen Miteinander gehört, könnte die Pille eine Erleichterung sein. Ein bis zwei Stunden vor einem Termin, einem Geburtstag oder einer Einladung, könnte man die Pille schlucken – und hat dann schon nach dem einen Glas genug.

Sicherlich wird dieses Mittel nicht zur Wunderpille avancieren. Aber es könnte helfen, dass sich mehr als zehn Prozent der Betroffenen in eine Therapie begeben – der Experte könnte sich 30 Prozent vorstellen.