In keinem Land der Welt wurde so viel Schnaps getrunken wie in der DDR. Der Ethnologe Thomas Kochan hat das Phänomen untersucht.

Berlin - Lange Schlangen, leere Regale - das gehörte in der Konsumwelt der DDR zum Alltag. An irgendetwas fehlte es eigentlich immer - außer an Schnaps. Der wurde im Arbeiter- und Bauernstaat nämlich praktisch ständig gebraucht: im Betrieb, in der Familie, bei Parties. Man trank in der Pause, auf die Prämie, zur Feier des Urlaubs oder weil Feierabend war, ein Anlass fand sich immer.

 

"Mehr Hochprozentiges wurde nirgendwo sonst getrunken", sagt der Historiker und Ethnologe Thomas Kochan. Die DDR war Weltmeister im Spirituosenkonsum. 1988 trank jeder Bürger im Durchschnitt 142 Liter Bier, 12,1 Liter Wein und Sekt. Und was den Schnaps betrifft, sind die Zahlen noch gewaltiger: "Ob Säugling oder Hochbetagter: jeder leerte 23 Flaschen Hochprozentiges im Jahr", sagt Kochan. Damit pichelten die Ossis zweieinhalb mal so viel wie ihre Brüder und Schwestern im Westen. Thomas Kochan hat für seine Doktorarbeit fünf Jahre lang über das Trinkverhalten der Ostdeutschen geforscht. Nicht nur theoretisch übrigens: am Ende seiner Recherche hatte er nicht nur seine Dissertation in der Tasche, sondern auch einen eigenen Schnapsladen eröffnet.

War in der DDR Trinken also wichtiger als anderswo? Nein, diese Vorstellung, so glaubt Thomas Kochan, gehört ins Reich der Klischees. "Die Menschen waren hier nicht permanent betrunken." Es sei nicht darum gegangen, sich so zu berauschen, dass man damit einem tristen und ungeliebten Alltag entfliehen könne, sagt Kochan, der seine Arbeit nun als Buch veröffentlicht hat.

Allerdings spricht der Forscher schon von einer "alkoholzentrierten Gesellschaft". Trinken als Möglichkeit war eigentlich immer präsent. "Die Menschen tranken, so wie gemeinhin gegessen wird." Im Osten, so Kochan, war es auch der verschüttete Leistungsgedanke einer konkurrenzarmen Kollektivgesellschaft mit einem ziemlich langweiligen Leben, der das Trinken förderte. Ein Glas Schnaps galt in keiner Situation als unpassend - egal ob während der Arbeit oder überhaupt tagsüber. "Hipp, Hopp - rin in Kopp", lautete einer der sehr geläufigen Trinksprüche.

Industriekapitalistischer Elendsalkoholismus

Getrunken wurde ein Wodka mit blauem Etikett, der im Volksmund "Blauer Würger" hieß, aber auch der beliebte "Goldband" , den die Menschen "Goldi" oder - seinem Preis entsprechend - "Vierzehnfuffzich" nannten. Selbst in Diätplänen galt der Alkohol als Problemlöser: bei seinen Recherchen stieß Thomas Kochan auf die Wodka-Bratwurst-Diät, die durchaus kein Scherz war. Morgens und abends gab es ein kleines Glas Wodka, mittags ein großes samt Bratwurst.

Dass der Schnaps derart regierte, lief der sozialistischen Vorstellung vom neuen Menschen eigentlich zuwider. Saufen - das passierte beim Klassenfeind, es war industriekapitalistischer Elendsalkoholismus. Die dunkle Eckkneipe, so schreibt der Wissenschaftler, "war das Schreckgespenst der Kulturrevolution, das Gegenstück zur lichten Zukunft." Statt in düsteren Kaschemmen sollten sich die Menschen nach dem Willen des Zentralkomitees der SED in "Gaststätten neuen Typs" oder am besten gleich im Klub- oder Kulturhaus treffen. Die Eckkneipen sollten verschwinden. Weinstuben, Milchbars und Cafés wurden dagegen in den Neubauvierteln eröffnet - oder auch am Palast der Republik in Berlins Mitte.

In der Folge wurde das Problem Sucht natürlich tabuisiert. Die Gesetze gegen Alkoholmissbrauch waren durchaus streng. Bei einer Straftat betrunken gewesen zu sein wirkte nicht strafmildernd, im Betrieb war Alkohol selbstredend streng verboten. Im Straßenverkehr galt die Nullpromillegrenze. Es hielt sich kaum jemand dran.

Auch wenn die DDR passé ist: der Blaue Würger hat überlebt und wird noch heute hergestellt. Thomas Kochan hat ihn in seinem Schnapsladen im Prenzlauer Berg nicht im Sortiment. "Es handelt sich", so sagt er, "doch eher um mindere Qualität".

Thomas Kochan, Blauer Würger - so trank die DDR, Aufbau-Verlag, 336 Seiten, 19,95 Euro.