Schäden durch Alkohol in der Schwangerschaft werden oft nicht oder zu spät erkannt. Neue Regeln für die Diagnose sollen dazu beitragen, dass Betroffene früher Hilfe bekommen.

München - Alkohol ist eine leicht verfügbare, günstige Droge und wird über alle Bildungsschichten hinweg verharmlost – leider auch während der Schwangerschaft. Dabei sollte jeder werdenden Mutter klar sein: Wer während der Schwangerschaft zu Alkohol greift, riskiert Schäden bei seinem Kind. Dazu gehören zum Beispiel spätere kognitive Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, möglicherweise auch Gesichts- und Organfehlbildungen. Der Alkohol gelangt nämlich indirekt in die Plazenta und wird dort umgewandelt. Die toxischen Abbauprodukte dringen in den fetalen Blutkreislauf vor und können das Gehirn, aber auch den restlichen Organismus des Ungeborenen schädigen.

 

„Alkohol kann wahrscheinlich bereits ab der dritten Schwangerschaftswoche zu eigentlich vermeidbaren Beeinträchtigungen des Kindes führen“, sagt Mirjam Landgraf, Kinder- und Jugendärztin sowie Psychologin am Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU München. Allerdings komme es vermutlich nicht in jedem Fall zu einer Schädigung. Eine eindeutige Mengengrenze, ab der Alkohol in der Schwangerschaft gefährlich wird, gebe es nach derzeitigem Kenntnisstand nicht, sagt Michael Klein, Professor für Klinische Psychologie und Suchtforschung an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Die kritische Menge sei von Frau zu Frau unterschiedlich.

Auch das Wann des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft, der Stresspegel, Ernährung und Umwelteinflüsse, genetische Faktoren und die Fähigkeit der mütterlichen Enzyme, Alkohol abzubauen, spielen eine Rolle. Deshalb ist es während einer Schwangerschaft besser, ganz die Finger vom Alkohol zu lassen. Doch Hinweise auf den Flaschen fehlen bislang. „Es gibt nur Freiwilligkeitserklärungen der Alkoholproduzenten, obgleich eine EU-Richtlinie die Warnhinweise zu den möglichen Folgen von Alkoholgenuss während der Schwangerschaft auf den Flaschen sogar vorschreibt“, bedauert Klein.

Verhaltensstörungen sind typisch

Das Spektrum an möglichen Schädigungen ist groß. Etwas mehr als 80 Prozent der jährlich rund 12 000 betroffenen Neugeborenen sind leicht bis mittelstark geschädigt, der Rest stark. In letzterem Fall spricht man vom Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS). FAS und alle leichten bis mittelstarken Fälle werden unter dem Sammelbegriff Fetale Alkoholspektrumsstörung (Fetal Alcohol Spectrum Disorder, FASD) eingeordnet. Alle Betroffenen haben Schäden im Zentralnervensystem. Typisch sind auch Verhaltensstörungen bis hin zu kriminellem Verhalten, fehlende soziale Fähigkeiten und Aufmerksamkeitsstörungen.

Zu beobachten sind zudem Kommunikationsprobleme, weil die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten und das Sprachverständnis der FASD-Kinder eingeschränkt sind. Hinzu kommen Entwicklungsstörungen und kognitive Einschränkungen. „Das Kind mit Vollbild FAS hat darüber hinaus auch Auffälligkeiten des Gesichts und des Körperwachstums“, berichtet Landgraf. Die Lidspaltenlänge sei zu kurz, die Falten zwischen Mund und Nase seien verstrichen, und die Oberlippe sei sehr schmal. Die Kinder sind auch zu klein und zu leicht.

Während FAS anhand der Gesichtsauffälligkeiten leichter erkannt werden kann, ist die Diagnose bei FASD-Kindern ohne diese äußeren Merkmale sehr schwierig. „Nicht sichtbare Schäden werden oftmals erst im Erwachsenenalter oder gar nicht als FASD erkannt“, bedauert Landgraf. Betroffene erhalten dann nicht die nötige Hilfe und Förderung. Werden betroffene Kinder früher entdeckt, ist es besser möglich, sie in ihrer geistigen Entwicklung zu fördern. Langfristig gesehen haben sie bessere Chancen, in unserer Gesellschaft zu bestehen und unabhängig zu leben, so wie es eben im Einzelfall möglich ist.

Einheitliche Kriterien gegen Fehldiagnosen

Eine neue sogenannte S3-Leitlinie stellt jetzt einheitliche, wissenschaftlich basierte Kriterien für die Diagnose von FASD bereit. Sie könnte die Situation der Betroffenen verbessern, wenn dadurch Fehldiagnosen vermieden und FASD leichter erkannt wird. Die Leitlinie richtet sich vor allem – aber nicht nur – an Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter und Hebammen. Für Kinder mit FASD sind Logopädie, Physio-, Ergo- und Psychotherapie sowie Maßnahmen, die die Selbstständigkeit im Alltag fördern und die Eltern oder weitere Bezugspersonen mit einbeziehen, sehr wichtig.

Ergotherapie kann die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit zur Organisation des eigenen Lebens verbessern. Mit spielerischen Methoden sollen die Aufmerksamkeitsspanne verlängert, die Mustererkennung und das Regellernen trainiert werden. Wichtig ist auch, dass die Kinder lernen, Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren. „Interventionen bei Kindern mit FASD müssen aber an den Entwicklungsstand und an das Individuum angepasst und alltagsbezogen geplant werden. Dabei muss darauf geachtet werden, dass die Förderung nicht zu einer Überforderung des Kindes und der Bezugspersonen führt“, sagt die FASD-Expertin Landgraf.

Alltagsaufgaben werden zum Problem

Viele der FASD-Kinder sind durchschnittlich intelligent und bemerken, dass sie anders sind als andere Menschen und vieles nicht können. Das Leben mit diesen kognitiven Einschränkungen ist nicht leicht, weder für die Betroffenen noch für Eltern oder Pflege- und Adoptiveltern. Lügen und Stehlen sind keine Seltenheit. Die Kinder werden schnell zornig, schlagen ihre Geschwister und werfen Gegenstände. Sie können ihr Verhalten nicht regulieren, können ihre Emotionen nicht zeigen und auch nicht darüber sprechen. Einfachste Alltagsaufgaben können ein Problem sein. Häufige Schulwechsel und Ausbildungsabbrüche sind normal. Die Kinder nehmen verkehrsbedingte Gefahren nicht wahr.

Einige FASD-Kinder haben eine gewisse Tendenz herumzustreunen. Sie sind zudem sehr gutgläubig, können vieles nicht richtig einschätzen und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht verstehen. Deshalb werden sie leicht zu Opfern sexuellen Missbrauchs durch Fremde, die sich als Freunde ausgeben. Zwei Drittel der betroffenen Kinder sind als Erwachsene nicht in der Lage, selbstständig zu leben. Nicht wenige werden, weil sie ihre Ausbildung nicht abgeschlossen haben, irgendwann obdachlos und verwahrlosen. Eine frühe Förderung ist deshalb ungeheuer wichtig. „Durch frühzeitige Förderung und Begleitung kann viel Frustration bei den FASD-Betroffenen vermieden werden. Das setzt aber voraus, dass FASD bereits im Kindesalter diagnostiziert wird“, sagt Landgraf.

Wo Eltern Hilfe finden

Beratungsangebote Erste Anlaufstelle für betroffene Eltern ist in der Regel der Kinderarzt. Darüber hinaus gibt es in Deutschland Einrichtungen, die über Spezialisten für FASD verfügen. Ansprechpartner kann hier auch die Selbsthilfegruppe FASD Deutschland e. V. (Internet: www.fasd-deutschland.de) sein. Unter der Rubrik „Hilfe und Beratung“ kann man dort Adressen von geeigneten Kliniken und Ärzten finden.

Lebenshilfe Menschen mit FASD brauchen Hilfe im Alltag, weil sie mitunter nicht gut lesen können, Anträge nicht verstehen und nur schlecht mit Geld umgehen können. Außerdem haben sie oft psychische Probleme. „Es gibt zu wenige Ärzte im Erwachsenenbereich, die sich mit FASD auskennen würden und es iagnostizieren können“, bemängelt der Kölner Psychologe und Suchtforscher Michael Klein. Nichtwissen führt mitunter zur falschen Behandlung. Das kann die Betroffenen überfordern und dazu führen, dass sie ihrerseits zu Alkohol und Drogen greifen, was dann in einer Abhängigkeit enden kann.