Eine neue EU-Verordnung zur Kennzeichnung lose verkaufter Lebensmittel soll Allergikern helfen. Doch die Hersteller sind skeptisch und beklagen den bürokratischen Aufwand.

Stuttgart - Es gibt Neuerungen, deren Sinn sich auf den ersten Blick nicht erschließt. Lose Pralinen, Croissants und Torten müssen von Dezember 2014 an speziell gekennzeichnet werden, wenn sie allergieauslösende Zutaten enthalten. Die entsprechende EU-Verordnung gilt für alle unverpackten Lebensmittel von der Wurst an der Theke über die Pizza an der Imbissbude bis zum Essen in Kantinen und Restaurants. Ein Schuss Milch im Brötchen oder eine Haselnuss im Krokant auf der Torte – und schon hat der Kunde künftig ein Anrecht auf schriftliche Information, denn auf beide könnte er allergisch sein. „Du liebe Güte!“, echauffierten sich viele Kolumnisten und schimpften über das bürokratische Monster.

 

Fünf bis sechs Prozent der Kinder und zwei bis drei Prozent der Erwachsenen leiden hierzulande an einer Lebensmittelallergie. Das sind bei rund 82 Millionen Bundesbürgern weit mehr als zwei Millionen Betroffene. „Diese Menschen haben genauso ein Anrecht auf Schutz und Sicherheit. Vom Ansatz her finde ich die neue Verordnung daher richtig“, argumentiert der Mediziner Klaus Richter vom Berliner Bundesinstitut für Risikobewertung.

Allergiker fühlen sich oft nicht richtig informiert

Erdnüsse, Sellerie, Hühnchen, Fisch – summa summarum 14 Zutaten machen Allergikern die Essenswahl schwer. Wenn sie zum Falschen greifen, juckt und brennt es im Mund – im glimpflichen Fall. Die Schwere der Symptome lässt sich jedoch nie vorhersagen. Mal können sich Quaddeln am ganzen Körper bilden, und 10 bis 20 Prozent der erwachsenen Allergiker bleibt sogar die Luft weg und ihr Kreislauf sackt ab. Ein lebensbedrohlicher anaphylaktischer Schock bahnt sich an.

Die Leiterin des Anaphylaxieregisters an der Berliner Charité, Margitta Worm, berichtet von sechs Todesfällen seit 2006, davon einen wegen Erdnüssen und einen wegen Haselnüssen. Dem Register werden anaphylaktische Schockreaktionen aus allergologischen Zentren in Deutschland, Österreich und der Schweiz gemeldet. Da nicht alle Krankenhäuser und Arztpraxen angebunden sind, dürfte die tatsächliche Zahl höher liegen. Allein im vergangenen Jahr erfasste Worms Team rund 1000 Meldungen zu schweren Reaktionen, die meisten davon auf den Verzehr von Nahrungsmitteln oder Insektenstichen hin. Und weil Worm das Leid der Allergiker hautnah kennt, findet sie: „Die Kennzeichnung loser Waren ist ein guter und wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Sie kann, wenn sie sinnvoll umgesetzt wird, den Betroffenen mehr Schutz bieten.“

Auf verpackten Lebensmitteln müssen schon heute die 14 allergieauslösenden Bestandteile angegeben werden. „Die Betroffenen sind in der Regel sehr gut informiert und orientieren sich daran“, sagt Worm. „Da es keine Therapie gegen Nahrungsmittelallergien gibt, hilft nur das Vermeiden der bedrohlichen Inhaltsstoffe.“

Nach Angaben des Bundesverbands des Deutschen Lebensmittelhandels halten viele Einzelhandelsketten an Wurst-, Fleisch und Brottheken schon heute auf freiwilliger Basis Informationen über Allergene in den losen Waren bereit. Meist sind die Zutaten in Ordnern aufgeschlüsselt. Doch Verbandssprecher Christian Mieles berichtet: „Das Interesse der Verbraucher daran ist recht gering.“

Die Lebensmittelhersteller setzen auf individuelle Beratung

Sabine Schnadt vom Deutschen Allergie- und Asthmabund widerspricht jedoch: „Allergiker kaufen nach unserer Befragung von mehreren Hundert Betroffenen sehr wohl lose Ware. Aber die Ordner liegen leider oft nicht offen aus, und es gibt keinen Hinweis darauf. Viele beklagen ein Informationsdefizit.“ Lediglich in großen Restaurantketten und bei einzelnen Bäckern oder Metzgern bekamen Allergiker die Angaben, die sie brauchen. Doch der Umfrage zufolge geben viele Bedienstete auch oft falsche Informationen weiter. Nach Einkehr in eine Gastwirtschaft hatten 85 Prozent der Befragten schon mindestens einmal allergische Beschwerden. Die meisten hatten sogar mehr als drei Mal ein derart unliebsames Erlebnis. „Leider ist das Bewusstsein bei den Herstellern loser Ware noch gering“, klagt Schnadt.

Der Deutscher Allergie- und Asthmabund hofft, dass sich die Informationslage mit der neuen Verordnung verbessert. Darin ist allerdings nicht geregelt, wie und wo über allergieauslösende Zutaten Auskunft gegeben wird – ob in einer Kladde, nach der man fragen muss, oder auf dem Etikett oder beispielsweise an einem separaten Infoterminal. Das Verbraucherschutzministerium beratschlagt derzeit über die Möglichkeiten. „Davon hängt entscheidend ab, ob das wirklich mehr Schutz für die Betroffenen bietet“, sagt Worm. Sie wie auch der Deutsche Allergie- und Asthmabund wünschen sich schriftliche Informationen, die der Kunde ungefragt lesen kann.

Christian Mieles vom Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels hofft indes auf eine lockere Regelung: „Im Backbereich werden jeden Morgen Brötchen auf Wunsch belegt. Da kommt nicht immer dieselbe Remoulade drauf. Wir erhoffen uns für diese Bereiche flexible Lösungen, etwa dass der Verkäufer mündlich zu alternativen allergenfreien Produkten raten darf.“

Werden Lebensmittel künftig häufiger industriell produziert?

So oder so bleibt ein Restrisiko. Denn bereits unbeabsichtigte Verunreinigungen, beispielsweise eine verirrte Erdnuss im Brötchen, genügen, um einem Allergiker gefährlich zu werden. „Schon einige Milligramm des Allergens in einem Kilogramm eines Lebensmittels können bei besonders empfindlichen Menschen eine Reaktion, auch eine schwere Schockreaktion auslösen“, sagt Klaus Richter vom Bundesinstitut für Risikobewertung.

Die Umsetzung der EU-Auflagen ist insofern eine Gratwanderung zwischen mehr Verbraucherschutz für Millionen Allergiker und der Wirtschaftlichkeit sowie Praktikabilität für die Betriebe. Müssten all jene Konditormeister, die ihre Torten jeden Tag frisch backen, künftig schriftlich über Allergene informieren, würde das der genormten Industrieware Tür und Tor öffnen. „Mehr Sicherheit kostet mehr. Das können große Unternehmen eher leisten“, analysiert Richter. Der Trend zur Industrialisierung der Lebensmittelproduktion ist ohnehin in vollem Gange.

Schon heute backen viele Bäcker ihre Brötchen nicht mehr selber, sondern schieben Fabrikteiglinge in den Ofen. Bei einer all zu strengen Informationspflicht kämen wohl bald auch die Wurststullen und der Frankfurter Kranz vom Fließband. Mehr Sicherheit für Millionen Allergiker würde mit einem Verlust der Lebensmittelvielfalt und einem Niedergang der manuellen Herstellung erkauft und – so darf man unterstellen – wohl mit einem Verlust an Frische und Qualität. Kein Experte mag damit zitiert werden, aber viele sehen diese Gefahr.