Mehr als eine Million Menschen im Südwesten kann kaum lesen. Der Tag der Grundbildung, zu dem die Kultusministerin an diesen Mittwoch nach Fellbach eingeladen hat, ist der Auftakt für eine landesweite Alphabetisierungskampagne.

Stuttgart - Der Befund ist bestürzend: 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Diese 7,5 Millionen Menschen – davon leben rechnerisch eine Million in Baden-Württemberg – gelten als funktionale Analphabeten. Das bedeutet: Sie sind zwar in der Lage, einzelne Wörter oder Sätze zu erfassen, nicht aber zusammenhängende Texte – selbst dann nicht, wenn diese kurz ausfallen. Sie verstehen auch bei einfacher Beschäftigung keine schriftlichen Arbeitsanweisungen.

 

Das war die Kernbotschaft der bereits 2011 vorgestellten „Level One“-Studie, die unter Leitung der Universität Hamburg erarbeitet worden war. Doch zeigte sich alsbald: Wer sich mit den Themen Alphabetisierung und Grundbildung beschäftigt, tut sich schwer, ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu gelangen. Die Debatten über Bildungspolitik drehen sich meist um das Gymnasium: G8 oder G9, die jüngste und die nächste Oberstufenreform, dazu noch die Ganztagsschule und Grundschule als Abschussrampe fürs Gymnasium – das sind die Themen. Die Landesregierung will dieses Tableau verbreitern. Für diesen Mittwoch hat Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) zu einem Grundbildungstag nach Fellbach eingeladen. Dieser dient als Auftakt für eine Alphabetisierungskampagne des Landes, die fünf Ministerien und 23 in der Weiterbildung engagierte Verbände zu einem Netzwerk verbindet. „Nur wer richtig lesen und schreiben kann, ist in unserer Gesellschaft gut verankert“, sagt Eisenmann. „Das ist wichtig für unsere Wirtschaft und Gesellschaft, zumal das Thema durch die Digitalisierung und die Flüchtlinge noch drängender geworden ist.“ Einen wichtigen Stellenwert nehmen arbeitsplatzbezogene Bildungsangebote ein.

Sprachunterricht im Pausencontainer

Nurettin Degermenci (42) sitzt in einem Container, der sich eng an die Produktionshalle von Voestalpine im Schwäbisch Gmünder Stadtteil Bettringen anlehnt. Das Unternehmen fertigt an dem Standort mit etwa 700 Beschäftigten im Drei-Schicht-Betrieb Karosseriebauteile für die Autoindustrie – unter anderem für Porsche. Degermenci hat seine Schicht gerade beendet; er fährt einen Gabelstapler. Der Container dient eigentlich als Pausenraum: zwei Tische, ein Dutzend Stühle, ein Flipchart – das Nötigste für den Alphabetisierungskurs. In der Ecke stehen eine Mikrowelle und eine Kaffeemaschine. Noch ist Degermenci allein mit Kursleiterin Sabrina Stadler. Gleich werden noch Sow Maruf (34) aus Sierra Leone und Dinh Van Na (49) aus Vietnam dazustoßen. Alle drei leben seit fast 20 Jahren in Deutschland.

Vom Leiharbeiter zum Festangestellten

Es geht an diesem Nachmittag um den richtigen Gebrauch des Artikels. Stadler verteilt zunächst eine Übersicht über die wichtigsten Regeln und ein Übungsblatt. Wörter, die auf „-heit“, „-keit“ oder „-schaft“ enden, bekommen ein „die“ vorangestellt: die Menschheit, die Herrlichkeit, die Kundschaft. Aha. Nurettin Degermenci hat die Frühschicht hinter sich. Es ist schon eine Leistung, sich nach acht Stunden Arbeit, Lärm und Stress auf die Feinheiten der deutschen Grammatik zu konzentrieren. Zweimal die Woche besucht er für eineinhalb Stunden den Unterricht. „Andere stehen acht Stunden an den Maschinen und kommen dann in den Kurs“, sagt die Kursleiterin. Sow Maruf verkündet mutig: „Wenn man etwas will, muss man dafür kämpfen.“ Degermenci sagt, er arbeite seit dem vergangenen Jahr bei Voestalpine, allerdings über eine Leiharbeitsfirma. Sein Ziel ist, vom Unternehmen übernommen zu werden. Das ist ein starker Anreiz, denn dann hätte er eine feste Arbeitsstelle und würde mehr Geld verdienen. Auch Voestalpine profitiert von den Kursen. „Es geht in erster Linie um die Arbeitssicherheit“, sagt Personalreferent SebastianUllersperger. Aber nicht allein darum: „Nur Mitarbeiter, die der deutschen Sprache mächtig sind, können wir betriebsintern entwickeln.“

Auch für die Bildungsträger ist es attraktiv, wenn sie ihre Kurse in den Betrieben anbieten können. „Wir kommen leichter an die Leute ran“, sagt Yvonne Nitsche von der Technischen Akademie (TA) in Schwäbisch Gmünd. Zudem ist der Weg in den Unterricht kurz. In den Betrieben sind es oft Migranten, die sich melden. Sogenannte Bestandsmigranten, die nach Deutschland kamen, als noch kaum jemand von Integrationskursen redete, geschweige denn diese anbot.

Die meisten Analphabeten sind im Beruf

Dabei ist funktionales Analphabetentum keineswegs nur ein Thema für Zuwanderer. Die Hamburger Autoren der „Level One“-Studie ermittelten: von allen funktionalen Analphabeten in Deutschland erlernten 4,4 Millionen Deutsch als Erstsprache. Das entspricht 58 Prozent. Erstaunlich auch: Mehr als 80 Prozent der funktionalen Analphabeten verfügen über einen Bildungsabschluss, zwölf Prozent sogar über einen höheren. Knapp 60 Prozent der funktionalen Analphabeten sind trotz ihres Handicaps erwerbstätig – oder andersherum ausgedrückt: zwölf Prozent der Erwerbstätigen sind funktionale Analphabeten.

Für die Alphabetisierungskampagne des Landes dient die 1987 vom damaligen Oberbürgermeister Wolfgang Schuster angestoßene Technische Akademie Schwäbisch Gmünd als Fachstelle. Das bedeutet, dass sie nicht nur Kurse wie jenen bei Voestalpine anbietet, sondern auch die anderen Projektträger koordiniert und berät. Yvonne Nitsche eilt von Unternehmen zu Arbeitsagenturen, um sie für ihr Thema zu sensibilisieren. Sie nennt als Beispiel jenen Beschäftigten des Abfallbeseitigungsbetriebs des Ostalbkreises, der nach 15 Jahren überraschend kündigte. Es stellte sich heraus, dass er mangels Schriftkenntnis an einem neu eingeführten elektronischen Eingabeverfahren scheiterte. Er war Analphabet. Solchen Menschen kann geholfen werden. Michael Nanz, Geschäftsführer der TA Schwäbisch Gmünd, weiß, was die Fortschritte für den einzelnen bedeuten: „Lesen und Schreiben zu lernen, steigert das Selbstwertgefühl ganz gewaltig.“