Deutsch bei Dr. Messow, der das große Ganze im Blick hatte, Mathe bei Herrn Häußler, der von vielen gefürchtet wurde, Musik bei Herrn Riekert, der oft mit den Nerven am Ende war: Ein Klassentreffen 50 Jahre nach dem Abitur.

Stuttgart - Jesus hatte im Arsch mehr Verstand als Sie im Kopf!“ Man beachte das ,,Sie“! Mehr als 50 Jahre hat Peter den Spruch unseres Religionslehrers mit sich herumgetragen. Jede Woche musste Peter außerdem mittwochs „prophylaktisch“ zum Arrest antreten. Unser Mathematiklehrer, Oberstudienrat Häußler, hatte ihn dazu verdonnert. Es verwundert wenig, dass Peter irgendwann das Gymnasium verließ und dorthin ging, wo „gescheiterte Oberschüler“ Asyl fanden: In der Wirtschaftsoberschule an der Rotebühlstraße. Da war alles freier, und es gab schon Mädchen in der Klasse. Fast unnötig zu sagen, dass alle, die nach der 10. Klasse das Gymnasium verlassen haben, verlassen mussten, sich später prächtig entwickelt haben.

 

Rüdiger hat auch so einen Spruch drauf, der ihn sein Leben lang begleitet hat. Ein Mathematiklehrer namens Dreher hat zu ihm des Öfteren gesagt: „Die Straßenbahn sucht Nachwuchs!“ Rüdiger ist einmal durchs Abitur gefallen – damals eine Wunde, die niemals vernarbt.

Wir haben uns verabredet im Trollinger am Feuersee – 50 Jahre nach unserem Abitur am Friedrich-Eugens-Gymnasium in der Silberburgstraße. Zwei von damals 25 Schülern sind inzwischen gestorben, einige melden sich nie. Aber zusammen mit denen, die nach der 10. Klasse gingen, sind wir doch insgesamt 20 alte Männer. Wir schauen zurück, wir schauen auf uns, wir schauen nach vorne.

Es war eine andere Zeit. Wie sie wieder lebendig machen? 1956 begann unser Weg im FEG. Zufällig erscheint am Tag unseres Zusammentreffens im Frühjahr 2015 in der Stuttgarter Zeitung eine kleine Meldung, die die damalige Zeit schlagartig lebendig macht: „Der Bundesgerichtshof“, so heißt es da, ,,distanziert sich von einem rassistischen Urteil aus dem Jahr 1956“. In diesem Urteil wurden Angehörige der Roma und Sinti als „Landplage“ bezeichnet. Man glaubt es nicht, aber so dachten die allermeisten Menschen damals.

Wiedersehen in der neuen Turnhalle

Heute sitzen wir mit dem Schulleiter Martin Dupper in der neuen, wunderschönen Turnhalle. Das FEG ist ausgezeichnet worden mit dem Titel „Schule ohne Rassismus“. Uns gegenüber sitzen Simon, Mervin und Seyma. Sie arbeiten bei der Schülerzeitung, und wir wollen versuchen herauszufinden, ob uns noch etwas verbindet.

Wir Kinder des Stuttgarter Westens

Zwischen der Schule von einst und der von heute liegen aber Welten. Das Friedrich-Eugens-Gymnasium war damals einerseits der erste Neubau einer Oberschule nach dem Zweiten Weltkrieg in Stuttgart, ein schöner Bau, der heute unter Denkmalschutz steht. Andererseits war es neben dem humanistischen Eberhard-Ludwigs-Gymnasium der Stolz des Landes, die älteste „Oberrealschule“. Kein anderes Gymnasium war so streng naturwissenschaftlich ausgerichtet, aber man legte auch großen Wert auf Allgemeinbildung. Jedenfalls gab es kein Entrinnen: Weder konnte man Mathematik abwählen noch die zweite Fremdsprache, und das war für viele – zu ihrem Verhängnis – Latein.

Heute buhlen die Innenstadt-Gymnasien um Schüler, machen Informationsabende, laden Eltern mit ein, kämpfen um Schüler, müssen attraktiv sein. Damals kamen die meisten FEG-Kinder aus dem Westen, aus Botnang. Man suchte die Schule, die zu Fuß zu erreichen war oder wenigstens ohne Umsteigen. Nur wenige wie Dieter, Sohn eines Chefarztes mit Haus auf der Halbhöhe, wählte sich die Schule selber aus: Er wollte nicht aufs „EbeLu“. Wir anderen aber waren Kinder des Westens.

Mädchen gab es keine in unserer Schule. Das nächste Mädchengymnasium war das Königin-Olga-Stift. In Briefen und Voraustreffen der Klassensprecher wurde geprüft, ob man zusammen eine Tanzschule besuchen wolle, ob es passt. Dann trafen sich die Schülerinnen und Schüler auf dem Höhenpark Killesberg, und wildfremde, scheue, schüchterne Heranwachsende standen sich hilflos gegenüber. Bei Peter hat sich ein Erlebnis festgefressen: Zum Schluss der Tanzstunde mussten sich Mädchen und Jungen in je zwei Reihen gegenüber aufstellen. Auf Kommando liefen die Jungen los und suchten sich „ihr Mädchen“. Peter stand in der zweiten Reihe, das Kommando kam, er lief auf seine Angebetete zu, da stellte ihm jemand ein Bein, er stolperte und fiel hin. Als er aufstand, war „die Seine“ vergeben. Er hat immer noch daran zu knabbern. Vorbei, vergangen, doch nicht vergessen. Aber auch nach 50 Jahren bekennt sich niemand zur Tat.

Eine Klasse ohne Türken, Italiener, Griechen, Jugoslawen

Das FEG war zwar keine rein schwäbische Schule mehr, denn die ungeliebten Flüchtlingskinder wie ich gingen auch aufs Gymnasium. Aber es gab nicht einen einzigen Türken, Italiener, Griechen, Jugoslawen. Damals hielt der Klassenverband die gesamte Gymnasialzeit zusammen. Da man keine Fächer abwählen konnte, waren immer dieselben Gesichter und Gestalten zusammen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Siege, Niederlagen, Ängste, Arreste, Triumphe, Verzweiflungsausbrüche, Klassenarbeiten, Ausflüge, Wandertage, Schullandheime – wir haben alles zusammen erlebt. Wir waren länger zusammen als viele Ehepaare heute.

Wir waren brave Jungs

Natürlich bildeten sich Grüppchen, sonderten sich Einzelne ab, zogen andere um. Manche fielen von oben durch zu uns, andere fielen von uns in die Klasse unterhalb. Aber im Wesentlichen blieb die Klasse bis zum Abitur zusammen. Und so wenig die Mitglieder der Gemeinschaft, der späteren Abschlussklasse 9c, wechselten, so wenig wechselten die Lehrer. Zwei Lateinlehrer begleiteten uns, und vier Mathelehrer.

Es waren harte Zeiten für Günther und für mich. So wenig er von alten Sprachen verstand, so wenig habe ich Mathematik begriffen, Physik, Chemie. In den letzten Jahren haben wir beide zusammen gelernt. Er hat versucht, mir Mathe beizubringen, ich ihm Latein. Heute können wir lachen: „Wie der Blinde dem Lahmen den Weg zeigt.“ Und stoßen aufeinander an.

Wir waren brav. Wir haben drei Jahre vor 1968 Abitur gemacht, auf dem offiziellen Abschlussfoto, das leider sehr schlecht erhalten ist, tragen alle Jackett und Krawatte. „Wir haben uns nicht gegen Übergriffe von Lehrern gewehrt“, sagt Dieter im Trollinger. Er ist Arzt geworden, praktiziert immer noch. Dieter hat sich damals extrem geärgert, dass vier Schüler durchs Abitur fielen. Er ist zum Klassenlehrer Dr. Messow hin und hat ihm ins Gesicht gesagt: „Das ist unmöglich, wie Sie Ihre Schüler behandeln! In jedem Fach hätte man so oder so entscheiden können. Die Lehrer haben entschieden: durchkommen oder durchfallen. Da wurde gemauschelt!“

Günther wurde Astronom

Er war 1965 am guten Ende der Mauschelei. „Ich hätte eine glatte Sechs in Latein bekommen – damit wäre ich durchgefallen“, sagt Günther. „Aber Lehrer Häußler hat erreicht, dass ich gnadenhalber eine Fünf bekam.“ Günther hat angefangen, Mathematik in Heidelberg zu studieren, dann Physik. Er hat seinen Doktor gemacht, sein Professor ist in die USA abgewandert und hat ihn nachgeholt. So war er lange am Astrophysical Observatory in Cambridge, Boston. Er hat angefangen, die wissenschaftliche Literatur der Astronomie zu digitalisieren und online weltweit verfügbar zu machen. Ein Pionier.

Die Halbgötter am Pult

Heute lebt er bei Phoenix, Arizona, nimmt mit seinem Flugzeug an den Kunstflugmeisterschaften der USA teil und reist allein entlang der Seidenstraße, nach Nepal, marschiert auf den Kilimandscharo. Günther ist das erste Mal seit Langem wieder in Deutschland. Er hat sich für unser Abitreffen auf den Weg nach Stuttgart gemacht. Wir haben ihn lange gesucht, über Facebook ausfindig gemacht. Er fordert uns jetzt mit größter Selbstverständlichkeit die Toleranz ab, die wir immer von anderen fordern. Günther tritt unbefangen als Transsexueller auf. Das aber ist kein Thema mehr heute. So ändern sich die Zeiten.

Lehrer waren Halbgötter. Sie entschieden über Schicksale. Damals gingen wenige Eltern zu Elternabenden, die Schüler mussten weitgehend allein mit Schule und Lehrern zurechtkommen. Niemand hat einen Anwalt eingeschaltet, damit dem Sohn Gerechtigkeit widerfährt. Damals waren nicht wenige Pädagogen gezeichnet aus dem Krieg zurückgekommen: Unser Physiklehrer hatte eine Silberplatte im Schädel, ein Lateinlehrer ein Glasauge, ein anderer Zucker. Der Turnlehrer kam mir immer vor wie ein alter Feldwebel, der seine Soldaten in den Angriff treibt. Furchtbar!

Viele haben unseren Mathelehrer geradezu als Sadisten in Erinnerung behalten. Aber wer gut war in dem Fach, hatte keinen Grund zur Klage. So bricht Kurt eine Lanze für Herrn Häußler: „Er war sehr kompetent, durchsetzungsfähig, und er hatte einen sehr gut durchstrukturierten Unterricht.“ Kurts Vater war Busfahrer bei der Stuttgarter Straßenbahn und wollte, dass es dem Bub mal besser geht. Das war Ansporn für den Sohn. Er hat sein Berufsleben an der Universität Stuttgart verbracht.

Unser armer Musiklehrer

Wir hatten einen nicht beamteten Musiklehrer, Wilhelm Riekert, er war später lange kompetenter Musikkritiker der Stuttgarter Zeitung. Ein sensibler Künstler, der nicht mit Schülern umgehen konnte, die sich in ihrer Pubertät für alles Mögliche interessierten – aber nicht für Musik. Herr Riekert konnte weder Disziplin erzwingen noch Interesse wecken. Er war oft mit den Nerven am Ende. „Da schäme ich mich heute noch, den haben wir fertiggemacht“, sagt Dieter. Und den Lateinlehrer mit dem Glasauge hat einer mal angesprochen – wir erinnern uns nicht mehr, wer es war, jedenfalls sagte er: „Herr Kuhn, kann ich Sie mal kurz unter drei Augen sprechen?“

Werner, immer noch praktizierender Anwalt und Organisator unseres Treffens, hat nur gute Erinnerungen: „Ich war ein guter Schüler, hatte immer gute Noten. Unser Deutschlehrer Dr. Messow hat mir mit Goethes ‚Faust‘ auf faszinierende Weise die Frage nach dem Sinn des Lebens beigebracht. Woher? Wohin? Wir sind alle etwas geworden. Ärzte, Anwälte, Unternehmensberater. Mit dem Abitur standen uns damals die Universitäten, stand uns die ganze Welt offen. Wir wuchsen in den Aufschwung der jungen Bundesrepublik hinein, die Führungskräfte in allen Bereichen gesucht hat. Damals machten etwa fünf Prozent eines Jahrgangs Abitur.

Die meisten von uns arbeiten noch. Nicht mehr so viel wie früher, aber wir sind noch dran. Jörg etwa, ein in Berlin pensionierter Arzt, stellt sich als Aidsspezialist Krankenhäusern in Afrika und in Asien zur Verfügung. Als Immanuel Kant in seinem Königsberg 50 Jahre alt wurde, wurde er mit „Greis“ angesprochen. Wir gehören heute nicht zu denjenigen, die Computerkurse für Senioren brauchen oder denen man erklären muss, wie ein Smartphone funktioniert. Wir gehen neugierig und tatkräftig in eine neue Zeit. Die Rückschau ist wertvoll, sie befreit auch von Ballast.

Jeder von uns hat aus seinem Leben etwas gemacht, manche mit großen Umwegen, manche leicht und locker. Wir haben so zusammengehalten, dass es 50 Jahre danach eine Freude ist, einen Tag zusammen zu erleben, auf sich selbst, auf die anderen zu schauen, auf die Gruppe. Jetzt schauen wir wieder nach vorn. Wir wissen, dass wir einer Generation angehörigen, der es so gut geht wie keiner vor uns. Wir konnten und können in Frieden, Freiheit, Wohlstand leben. In Deutschland, einer Insel der Seligen. Und wahrscheinlich wird es keiner Generation in Mitteleuropa mehr so gut gehen, wie es uns gegangen ist und heute geht.