Das Rudolf-Sophien-Stift will mehr ausgelagerte Plätze in Unternehmen schaffen, um psychisch Kranke in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Der Ansatz stammt aus den USA. Ein Besuch bei einer beteiligten Firma.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart/Sindelfingen - Zwei Stunden braucht Peer Köhrer von seiner Haustür in Stuttgart bis zu seinem Arbeitsplatz in Sindelfingen. Dass der 34-Jährige den weiten Weg gerne in Kauf nimmt, sagt schon viel aus. Peer Köhrer ist psychisch krank. Bei der Grafikfirma FX-Medien kann er dennoch in seinem gelernten Job als Technischer Kommunikationsassistent arbeiten. Er programmiert LCD-Bildschirme, unter anderem für Urlaubsgebiete. „Ich bin gefordert, mir macht das Spaß“, sagt Köhrer. Vorher ist er drei Monate in den Werkstätten des Rudolf-Sophien-Stifts (RSS) an die Berufswelt herangeführt worden. Dort sei ihm die Arbeit aber zu eintönig gewesen. „Das war immer das Gleiche.“

 

Das reale Arbeitsumfeld tut ihm gut, ist Peer Köhrer überzeugt, der wegen einer schizophrenen Psychose seit acht Jahren Medikamente nimmt. Sie halten ihn stabil, haben aber Nebenwirkungen: Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Übelkeit. Absetzen will er die Pillen nicht. Das hat er früher getan. „Es gab Vorfälle“, sagt er dazu nur. Seine Kollegen seien toll, der Chef ebenfalls, alle duzen sich. Der letzte Betriebsausflug ging sogar nach Italien. Peer Köhrer strahlt, wenn er davon erzählt.

Im Gotteswahn wollte er Muslim werden

„Man ist endlich wieder nah am normalen Leben“ , sagt auch Tom K.; er ist ebenfalls psychisch krank, hat zwei schwere Psychosen hinter sich. Die letzte bekam er, als er in der Frühschicht in einer Firma am Band gearbeitet hat. „Die Tabletten machen einen sehr müde“, sagt er. Um morgens aufstehen zu können, hatte er die Dosis reduziert. Mit einer manischen Phase fing es an, am Ende hatte er einen Gotteswahn und wollte Muslim werden. Mit Medikamenten mache er seither „keine Experimente mehr“, sagt der Stuttgarter, der anonym bleiben will. Man merkt ihm seine Krankheit nicht an. Er lebt sogar in einer normalen Wohngemeinschaft. Vergangenen Mai hat er in der gleichen Firma wie Peer Köhrer angefangen, nur in einer anderen Abteilung. Er erledigt „alles, was anfällt“ – befüllt Spielmobile, repariert, druckt Folienwerbung aus, schneidet sie zurecht. „Ich fühle mich wie jeder andere Arbeitnehmer auch“, sagt der 33-Jährige.

„Wir wussten zuerst nicht, wie wir Tom einsetzen“, berichtet der Geschäftsführer von FX-Medien, Uwe Lehmann. Mittlerweile sei er ein „sehr wertvoller Mitarbeiter“ geworden. Lehmann hat es nie bereut, psychisch Kranken eine Chance gegeben zu haben. „Es hat vom ersten Tag wunderbar mit beiden funktioniert“, sagt der Unternehmer. Über eine Empfehlung war die Kooperation mit dem Rudolf-Sophien-Stift zustande gekommen. Eine andere Firma konnte nicht und fragte an, ob sie es nicht probieren wollten mit Peer Köhrer. Warum nicht, dachte sich Lehmann.

„Viele brauchen den geschützten Raum“

FX-Medien ist eine von mehr als 100 Firmen, mit denen das Rudolf-Sophien-Stift kooperiert. Aktuell haben 55 psychisch Kranke einen externen Arbeitsplatz, sie werden von Jobcoaches betreut, sagt die Werkstattleiterin Irmgard Plößl. Ziel sei, die ausgelagerten Plätze auszubauen – auch, um inklusiver zu werden (siehe Infokasten). Für die Werkstattplätze bedeutet das, dass sie zurückgefahren werden sollen.

„Werkstätten im klassischen Sinn gibt es genug“, sagt Plößl. „Wenn es uns gelingt, mehr Leute in die Betriebe zu bekommen, werden wir auch Räume reduzieren“, sagt die Leiterin. Sie betont aber, dass man die Werkstätten nie aufgeben würde. Nicht für jeden psychisch Kranken komme ein externer Arbeitsplatz in Frage. „Viele brauchen den geschützten Raum“, sagt Irmgard Plößl, die Psychologin ist. „Es kann vorkommen, dass eine Firma anfragt und wir absagen müssen, weil von 450 Leuten keiner den Finger hebt“, sagt sie. Man dürfe psychisch Kranken nicht zu viel Stress zumuten. „Eine Unterforderung ist aber auch nicht gut“, sagt die Psychologin.

In den USA sind Werkstätten radikal abgebaut worden

Sie weiß natürlich, dass in anderen Ländern weniger auf Werkstätten gesetzt wird als in Deutschland. Vorreiter bei den externen Arbeitsplätzen sind die USA. Dort werden psychisch Kranke seit den 80er Jahren schon aktiv in Unternehmen untergebracht, unterstützt von Jobcoaches. „First place, then train“ sagen die Amerikaner dazu. Die Arbeit selbst ist bei diesem Ansatz bereits Rehabilitation. Studien belegen den Erfolg: Die Integration in den ersten Arbeitsmarkt gelinge so häufiger. Wer direkt platziert, statt zuerst in der Werkstatt trainiert werde, habe eine doppelt so hohe Chance auf einen regulären Arbeitsplatz.

Irmgard Plößl kennt die Studien aus den USA. Sie seien ausschlaggebend gewesen, dass man 2006 mit den ersten sechs ausgelagerten Arbeitsplätzen gestartet habe. „Wenn jemand zurückfinden möchte in den ersten Arbeitsmarkt, muss man so früh wie möglich dort trainieren“, sagt sie. Dass in Amerika Werkstätten für psychisch Kranke radikal geschlossen worden sind, findet sie aber falsch. Diejenigen, die es nicht schafften, hätten dann keinen Ort mehr. Aber es gebe eben auch viele, die besser außerhalb einer Werkstatt aufgehoben seien. „Die gilt es, sehr früh zu unterstützen“, sagt Irmgard Plößl.

Unternehmer empfiehlt das Konzept weiter

Uwe Lehmann ermuntert andere Firmen, sich zu öffnen. „Das Risiko ist total gering“, sagt er. Er könne jeden Tag einen Rückzieher machen. Doch er sieht keinen Grund dazu. Seine beiden Mitarbeiter seien verlässlich. „Ein Nein habe ich von Tom oder von Peer nie gehört.“ Als Köhrer einmal angeschlagen wirkte, hat er ihm gesagt: „Komm mal später.“ Lehmann erzählt aber auch von einer Frau, die psychisch krank ist und mit der es nicht funktioniert hat. Sie habe den halben Tag unglücklich herumgesessen. Sie ist wieder in der Werkstatt.

Peer Köhrer und Tom K. werden über das RSS bezahlt, auch Urlaub und Krankheit laufen über das Stift. Anfangs haben sie ihren Jobcoach, Simone Stuber, wöchentlich in der Firma gesehen. Inzwischen kommt sie oft nur einmal im Monat. „Es läuft gut“, sagt auch Simone Stuber.