Falsch gefaltete Proteine könnten die Ursache für das Altersleiden Alzheimer sein. Dies hätte weitreichende Folgen für Diagnose und Therapie.

Stuttgart - Menschen, die an Alzheimer erkrankt sind, verlieren alles, was sie kennzeichnet als den Menschen, den sie selbst und andere kennen: Die kleinen Vergesslichkeiten gehen über in Erinnerungslücken, die es dem Betroffenen schwer machen, alleine im Alltag zu bestehen. Diese Lücken werden immer größer und betreffen auch die gelebte Erinnerung, das Denken an das Leben vor der Krankheit. Schließlich bleibt nichts mehr, die Angehörigen werden zu fremden Personen, die Persönlichkeit des Patienten verändert sich völlig.

 

Schuld daran sind Ablagerungen im Gehirn. Die klumpigen Ansammlungen nennt man Plaques. Sie bestehen aus dem Protein Beta-Amyloid. Die eher länglichen Bündel heißen neurofibrilläre Tangles und bestehen aus dem Tau-Protein. Diese krankhaften Proteine zerstören die Nervenzellen, die man zum Denken, zum Erinnern und für seine Persönlichkeit braucht. Wie es dazu kommt, ist bis heute rätselhaft.

Bereits seit einigen Jahren deutet sich an, dass Alzheimer und andere neurodegenerative Leiden wie etwa Parkinson einen ähnlichen Ursprung haben wie der Rinderwahnsinn BSE oder das Pendant beim Menschen, die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Diese werden ausgelöst durch falsch gefaltete Prionproteine. Normalerweise sind Prionproteine ungefährlich und kommen nahezu überall im Körper vor. Erst wenn das winzige Protein seine Form verändert und sich in ein Prion, eine völlig verdrehte Variante verwandelt, kommt es zu dem tödlichen Hirnleiden.

Auch bei Alzheimer kann man sich einen derartigen Vorgang mittlerweile vorstellen: „Wenn sich die wohlgefalteten Beta-Amyloid-Proteine spontan umfalten, können sie zu Krankheitserregern ganz ähnlich den Prionen werden“, sagt Mathias Jucker vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung der Uni Tübingen. Jucker ist einer der bekanntesten Grundlagenforscher in Sachen Alzheimer. Im Tierversuch konnte er zeigen, dass sich die klumpigen Ablagerungen im Gehirn von Alzheimer-Patienten ähnlich verhalten wie Prionen.

Der falsch gefaltete Keim zwingt benachbarten und gesunden Beta-Amyloid-Eiweißen diese Fehlfaltung auf. Dies führt schließlich zu den alzheimertypischen Klumpen und absterbenden Nervenzellen – und geht damit auf den gleichen Krankheitsmechanismus zurück wie die Prionenerkrankungen. Lange Zeit hielt man diese Theorie für an den Haaren herbeigezogen, doch mittlerweile ist sie etabliert, wie unter anderem zahlreiche Artikel in renommierten Fachjournalen wie „Nature“ und „Science“ zeigen. Nicht wenige davon stammen von Jucker und seinen international mit ihm zusammenarbeitenden Kollegen.

Suche nach Medikamenten steckt fest

Dafür spricht auch, dass sich die Medikamentenforschung in einer Sackgasse befindet. Diese Mittel haben alle das Ziel, die verformten Proteine Beta-Amyloid und Tau zu bekämpfen. Einerseits sollen Antikörper an vorhandenes Beta-Amyloid andocken und es unschädlich machen. Andererseits sollen Medikamente die Produktion des schädlichen Eiweißes hemmen, so dass es gar nicht erst entsteht. Gebracht haben diese Medikamente und Impfstoffe wenig oder gar nichts. Das Altersleiden schreitet unaufhörlich fort. Der Verfall der Alzheimer-Patienten ist medikamentös nicht aufzuhalten.

Doch Jucker und seine Kollegen denken weiter: „Möglicherweise wirken die Mittel nicht, weil man sie zu spät gibt“. Der Tübinger Zellbiologe geht davon aus, dass sich einzelne, sehr wenige krankmachende Keime schon sehr früh bilden – Jahrzehnte, bevor die Krankheit spürbar wird. Diese Keime haben zunächst keine Chance, weil der Körper ein Reparatursystem besitzt, das sie entsorgt. Mit zunehmendem Alter nimmt vermutlich die Zahl falsch gefalteter Proteine zu, während der Reparaturmechanismus altersbedingt abnimmt. „Man trägt die Erkrankung in sich, lange bevor man überhaupt über das Altern nachdenkt“, sagt Jucker. Und zu diesem frühen Zeitpunkt könnten die vorhandenen Medikamente vielleicht helfen. „Wenn die Erkrankung bereits besteht und man schon die krankheitsbedingten Symptome hat, können die Mittel wahrscheinlich nicht mehr viel bewirken, denn sie zerstören zwar die Ablagerungen, nicht aber den krankmachenden Mechanismus“, erklärt der 53-jährige Neurowissenschaftler.

Und wie sieht es mit neuen Mitteln aus? Schließlich könnte man versuchen, die Fehlfaltung der Prionen im Keim zu ersticken, das Reparatursystem des Körpers zu stützen oder Hilfsproteine zu blockieren, die in den Prozess der Fehlfaltung eingebunden sind. Doch das gestaltet sich als schwierig, weil man bis heute nicht genau weiß, wie Prionen aussehen. Man kann zwar eine dreidimensionale Struktur in der Theorie erstellen und damit auch die krankmachenden Prozesse im Gehirn von Versuchstieren in Gang setzen. Doch die Realität mit Proben aus Gehirnen von Alzheimer-Patienten gestaltet sich grundsätzlich sehr viel aggressiver.

„Möglicherweise geht es nicht nur einzig um das fehlgefaltete Eiweiß, sondern um zusätzliche Hilfsstoffe“, sagt Jucker. Zudem mehren sich Hinweise, dass Alzheimer nicht gleich Alzheimer ist. So haben amerikanische Forscher kürzlich herausgefunden, dass sich die falsch gefalteten Keime zweier Patienten klar unterschieden. Dies würde bedeuten, dass – wie viele andere Erkrankungen auch – das Altersleiden individuell verschieden ist. Das müsste dann in der Therapie berücksichtigt werden. „Das würde auch die unterschiedlichen Muster im Gehirn der Patienten erklären, ebenso wie den unterschiedlichen Verlauf der Erkrankung“, kommentiert Jucker die Arbeit der US-Kollegen.

In Tübingen macht man sich derweil auf die Suche nach einem biologischen Marker. Mit dessen Hilfe könnte man die Krankheit erkennen, bevor man sie wahrnimmt oder im Hirnscan sieht. Dabei geht es um die Früherkennung der fehlgefalteten Proteine und eine rechtzeitige Behandlung. Und damit könnte, so die Hoffnung der Forscher, das Leiden möglicherweise um Jahre nach hinten verschoben werden.