Lange Zeit war New York ein Hort schwäbischerLebensart. Es gab deutsche Metzgereien und Vereine. Davon ist heute wenig geblieben.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)
New York - Sie probten gerade die Volksweise "Schwabenland mein Heimatland, oh wie bist du schön". Die zehn betagten Sängerinnen und Sänger mühten sich nach Leibeskräften, die Kreutzerhalle in dem New Yorker Stadtteil Yorkville mit ihrem Stimmvolumen auszufüllen. Da ließ Liliane Bertin, die Dirigentin des kleinen Chors, ihren Taktstock sinken. "Ich glaube, es geht mit uns zu Ende", sagte sie.

Zwischen Downtown und Sauerkraut


1974 gab der Schwäbische Damen- und Männerchor von New York nach mehr als hundert Jahren Vereinsgeschichte sein Abschiedskonzert. Es war der letzte Hort schwäbischer Kultur. 35 Jahre später sind alle Mitglieder verstorben oder in entlegene Altenheime gezogen. Außer Wolfgang Hahn, einem 67 Jahre alten US-Ludwigsburger, der in Manhattan "die Stellung hält", wie er sagt. Seine kleine Wohnung in Yorkville quillt über vor Souvenirs, Zeitungsartikeln und Bildbänden aus der Heimat. Sein Gedächtnis ist gespickt mit Anekdoten aus der Zeit, als der "Sauerkrautboulevard" von Yorkville - so nannte man die 86. Straße östlich des Central Parks - seinen Namen noch verdient hat.

"Im Brunnenhaus kauften die Housewifes das feine Kaffeegeschirr, beim old Mielke gab es die Grundig-Radios, und in der Kleinen Konditorei schmeckte der Zwiebelkuchen like daheim, believe me", schwärmt Hahn und zeigt auf Hochhäuser und gläserne Bürotürme. "Da siehsch nix mehr von anymore." Einzig das Casino ist bis heute ein Filmtheater. Heino und Freddy Quinn traten hier auf. "Als der Quinn einmal einen Schlager in Englisch anstimmte, brüllte eine Lady von der Empore: Sing gefälligst auf Deutsch, oder ich schmeiß dich in den Hudson", erinnert sich Hahn.

Verströmt ist der Duft von Zwiebelkuchen, vorbei die Zeit, als das Ballhaus Corso zum Tanztee lud und das Casino die Wochenschau ausstrahlte. Auf der 86. Straße erinnert fast nichts mehr an die deutsche Vergangenheit. So kennt auch kaum ein New Yorker das Schicksal von Little Germany, das wegen seiner hohen Schwabendichte auch Deutschländle genannt wurde. "In New York ist die Gegenwart so mächtig, dass uns die Vergangenheit verloren gegangen ist", schrieb der Schriftsteller John Jay Chapman bereits vor 100 Jahren.

Ein Viertel der New Yorker Bevölkerung war damals deutsch


Die Geschichte vom Deutschländle begann Anfang des 19. Jahrhunderts auf der Lower East Side im Südosten von Manhattan. In Baden und Württemberg grassierte in dieser Zeit der Hunger. Nach der gescheiterten Revolution 1848 wanderte fünf Prozent der badischen und württembergischen Bevölkerung nach Übersee aus. Tausende von Flüchtlingen begannen in den engen Mietshäusern am East River ein neues Leben. Am Ende des Jahrhunderts zählte man an der Lower East Side eine Viertelmillion Deutschstämmige - das entsprach damals einem Viertel der New Yorker Bevölkerung.

Little Germany war das erste Einwandererviertel Amerikas, in dem über mehrere Straßenzüge hinweg kein Wort Englisch gesprochen wurde. Der ausgewanderte Tübinger Schriftsteller Theodor Griesinger schrieb 1858: "Wahrhaftig, das Deutschländle verdient seinen Namen, denn es sind zumindestens 15.000 Familien auf einem und demselben Fleck. Nicht bloß der Schuhmacher, der Schneider, nicht bloß der Rasierer und der Doktor, nein, auch der Pfarrer ist hier deutsch, und damit dem Deutschtum die Krone aufgesetzt werde, trifft man sogar eine deutsche Leihbibliothek da."

An anderer Stelle beschreibt Griesinger, wie die Einwanderer hausten: "Hier im Deutschländle ist das Wohnzimmer nicht bloß Wohnzimmer, sondern zugleich Kammer, Küche, Keller und Holzstall, dieweil in dem kleinen Schlafkabinett neben dem breiten Bett für das Ehepaar kaum noch ein Schragen für die Kinder Platz hat. Auch der Geruch ist nicht immer der beste, denn das Schlafzimmerchen hat weder einen eigenen Ausgang noch ein Fenster, und das Kochen im Wohngemache, absonderlich das Kochen des Sauerkrauts, lässt natürlich einigen Nachgeschmack zurück."

Mit den Deutschen kamen die Schankstuben


Die Einwanderer richteten sich in der Neuen Welt so ein, wie sie es von ihrer Heimat her kannten und schätzten. Little Germany war sprichwörtlich eine Miniatur Deutschlands. Für deutsche Gemütlichkeit sorgten Weinstuben, Schützenvereine, Damenkränzchen, Bierhallen. Letztere prägten das Klischee des trinkfreudigen Deutschen, denn reine Schankstuben waren in New York bis dato unbekannt.

So groß war die Sehnsucht nach der Heimat, dass sich die einzelnen Volksgruppen zu organisieren begannen. Die Schwaben wurden als erste aktiv. 1862 gründeten sie einen Cannstatter Volksfestverein, die Bayern zogen erst zwölf Jahre später nach. Im Vorstand des Cannstatter Volksfestvereins saß der Ehninger Bäcker Hans Pfeifer. Seinem Sohn hat er geschildert, wie es damals zuging. "Das Fest ging sieben Tage", erzählt Hans Pfeifer junior. "Man führte schwäbische Mundartstücke auf, veranstaltete Hasenjagden, aß Maultaschen und steckte die Frauen in die Altweibermühle." Die 50 Vereinsmitglieder genossen hohes Ansehen. Neuaufnahmen waren nur möglich, wenn ein Mitglied verschied.

Die New Yorker Schwaben gründeten Gesangsvereine wie den Stuttgarter Liederkranz, aber auch Turn- und Wandervereine. Von 1867 an lasen sie sogar ihre eigene Zeitung. Der Herausgeber der New Yorker "Schwäbische Wochenschau" war Gustav Heerbrandt, ein politischer Aktivist aus Reutlingen, der vor seiner Ausreise im Gefängnis vom Hohenasperg einsaß. In einem "Biografischen Jahrbuch" aus dem Jahr 1897 steht über ihn geschrieben: "Ein echtes schwäbisches Original. Er setzte seine Ehre darein, sich durch absichtliche Derbheit und Grobheit seines Wesens als solches auszuweisen. Der urwüchsige, oft sogar unflätige Ton, den er in seinem Blatt anschlug, leistete seiner Popularität Vorschub, da man wusste, dass sich hinter der rauen Außenseite ein ehrliches Herz verberge."

Es fehlte an nichts im Deutschländle


Heerbrandt tat alles, um den schwäbischen Dialekt in der Fremde aufrechtzuerhalten. Er verbreitete schwäbische Volksliteratur und veranstaltete Abende mit schwäbischer Dichtung von Karl Borromäus Weitzmann und Johannes Nefflen. Auch schrieb er selbst Verse in Mundart, übersetzte hochdeutsche Gedichte ins Schwäbische und gab heimatlichen Anekdoten eine literarische Fassung.

Es fehlte ihnen an nichts im Deutschländle. Mit der Integration hatte man es nicht eilig: "Um keinen Preis möchten die Weiber in andere Viertel ziehen", schreibt Theodor Griesinger. "Eine, die als junges Mädchen über's Wasser herüber kam, lernt das Englisch so leicht wie das Tanzen; eine, welche schon die Dreißig passiert oder gar das Schwabenalter erreicht hat, kann sich an die englischen Laute nicht mehr recht gewöhnen."

An einem schönen Sommertag im Jahr 1904 geschah dann die Katastrophe. Historiker machen sie dafür verantwortlich, dass Little Germany im Gegensatz zu Little Italy und China Town von der Karte Manhattans verschwand. Die deutsche Sankt-Marks-Gemeinde hatte für den Jahresausflug der Sonntagsschule den Vergnügungsdampfer General Slocum gechartert. Fast 1400 Menschen bestiegen das Boot. Die Stimmung war ausgelassen. An Deck spielte eine Kapelle deutsche Marschmusik, und die Passagiere freuten sich, der stickigen Sommerhitze auf den Straßen Manhattans zu entkommen.

Auf einmal löste sich das Viertel auf


Eine halbe Stunde später brach durch ein achtlos weggeworfenes Streichholz ein Feuer aus. Die Rettungswesten waren mit porösem Kork gefüllt, die Rettungsboote verrostet. Mehr als tausend Menschen starben. Diese Tragödie, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die schlimmste überhaupt in der Geschichte New Yorks, zerriss die deutsche Gemeinschaft. Kirchenchöre, Sportvereine, Stammtische lösten sich auf. Einige Hinterbliebene begingen Selbstmord. Andere zerstritten sich wegen der Entschädigungsgelder. Die meisten zogen weg, um nicht an die Toten erinnert zu werden.

So entstand Little Germany in Yorkville, das 80 Straßen weiter nördlich liegt und die Deutschen mit damals noch erschwinglichen Mieten anlockte. Noch einmal begann man von vorn, eröffnete Geschäfte, gründete Vereine. Doch das Viertel erreichte nicht mehr die Größe und das Selbstbewusstsein von einst. Hinzu kamen die Weltkriege und der schlechte Ruf der Deutschen. Familien anglisierten ihre Namen, von Müller zu Miller, von Schmidt zu Smith. Ladenbesitzer firmierten ihre Geschäfte um, und das Frankfurter Würstchen wurde zum Hot Dog. Eine deutsche Zeitung unterm Arm zu tragen oder auf Deutsch zu grüßen barg Risiken.

Wolfgang Hahn, der in den fünfziger Jahren einwanderte, erinnert sich, wie er auf offener Straße bespuckt wurde. Er stand vor Gericht, weil er eine ältere Dame, die auf ihn losgehen wollte, weggeschubst hatte. Sein Anwalt, den er teuer bezahlte, konnte das Gericht erst in zweiter Instanz überzeugen, dass es Notwehr gewesen war.

Auf ein Viertele zusammensitzen


Investoren und Bauunternehmen taten ihr Übriges zum Niedergang von Little Germany. Ein Geschäft nach dem anderen überließ ihnen angesichts schrumpfender Verkaufszahlen seinen wertvollen Grund und Boden. Überlebt haben auf der 86. Straße nur die Metzgerei Schaller&Weber und das Restaurant Heidelberg. Auch die deutsche St.-Marks-Gemeinde, deren Kirche einen neuen Anstrich bräuchte, hält sich tapfer. Ein Dutzend Kirchgänger seien es noch an Sonntagen, sagt Hahn.

Es gibt noch schwäbische Vereinskultur in den USA, jedoch nicht mehr auf Manhattan. Die nächste Adresse ist in New Jersey, in der Nähe eines deutschen Altenheims. Der Schwäbische Sängerbund probt derzeit für sein alljährliches Weihnachtskonzert. Auch der Cannstatter Volksfestverein kommt in New Jersey noch viermal im Jahr zusammen, aber nur noch zum Viertelesschlotzen. Auf Manhattan ist Wolfgang Hahn einer der letzten bekennenden Schwaben. Zwar singt er keine schwäbischen Volksweisen mehr, dafür beeindruckt der Koch einflussreiche New Yorker von der schwäbischen Haute Cuisine.

Politprominenz wie Hillary Clinton und Nelson Rockefeller hat er schon mit Spätzle und Sauerbraten beglückt. Sein Kartoffelsalat macht in den höchsten Zirkeln von sich reden. Hahn behandelt seine Arbeit diskret und schwäbisch bescheiden: "Viele von uns haben es zu was gebracht." Doch sind sie in alle Winde verstreut. Nur manchmal trifft man noch die alten Bewohner von Yorkville, wenn sie den Ort aufsuchen, wo das Leben in der Neuen Welt seinen Anfang nahm.