Der Amoklauf in München hat die ganze Stadt in einen Ausnahmezustand versetzt. Ein Jahr danach kommen Hunderte und gedenken der Opfer. Am bewegendsten sind die Worte einer Mutter.

München - Um 10.26 Uhr ist es still am Olympia-Einkaufszentrum in München. Ganz still. Obwohl am Samstag unzählige Menschen auf den Treppen vor dem Gebäude und auf der Straße stehen. Schweigend gedenken sie der Opfer des Amoklaufs, der auf den Tag genau vor einem Jahr eine ganze Stadt, ein ganzes Land schockierte und erschütterte. Die Geschäfte sind heute Vormittag geschlossen.

 

Kurz zuvor ist Sibel Leyla ans Mikrofon getreten, die am 22. Juli 2016 ihren Sohn Can verlor. Er war damals 14. Die Mutter schluchzt, ringt um jedes Wort: „Es tut mir leid, dass ich dich an dem Tag nicht schützen konnte.“ Sie empfinde unendlichen Schmerz, „wenn ich daran denke, wie alleine und hilflos du gewesen sein musst“. An manchen Tagen wünsche sie sich, selbst tot zu sein. Am 22. Juli 2016 sei Dunkelheit über sie gekommen. „Wer will uns unser Alltagsleben zurückgeben? Niemand.“ Dann versagt die Stimme, Leyla wendet sich ab. Tränen im Publikum.

Eine Frau spricht für sie weiter, erzählt von der Wut, die die Mutter spüre. „Die mir sagt, dass das System versagt hat.“ Diese Wut würde sie gerne abgeben. Und sie erzählt von dem Schmerz und dem Leid, dass der Sohn niemals seinen 18. Geburtstag erleben, niemals erwachsen sein wird.

Vor einem Jahr hat David S. hier neun vorwiegend junge Menschen erschossen, die meisten mit Migrationshintergrund. Er hat mit seinem Amoklauf ganz München in einen Schockzustand versetzt. Stundenlang herrschte in der Stadt Alarm, an mehr als 70 Orten meldeten Menschen Schüsse, Verletzte und Tote, in zwei Fällen sogar Geiselnahmen - obwohl jenseits des Einkaufszentrums (OEZ) gar nichts passiert war.

Gegenüber dem OEZ-Eingang steht nun ein Gingko, ein Lebensbaum. Darum ein zwei Meter hoher Edelstahlring mit den Namen und Bildern der Opfer. Das Mahnmal „Für Euch“ weihen am Samstag Vertreter verschiedener Religionen ein. Politiker, Angehörige der Toten, Einsatzkräfte aus der Amoknacht, aber auch die umstehenden Gäste sprechen das christliche und das muslimische Glaubensbekenntnis, gleichzeitig. Da ist die Wolkendecke gerade ein Stück weit aufgerissen.

Amokläufer wird nicht ausgeklammert

„Der Amoklauf vor einem Jahr hat ganz Bayern ins Mark getroffen“, sagt Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU). Kein Name, kein Gesicht dürfe vergessen werden. Er spricht von einer „Wunde, die nie ganz verheilen wird“. Er erinnert aber auch an die Hilfsbereitschaft der Münchner, die anderen auf der Flucht von vermeintlichen Tatorten die Türen öffneten: „Bei allem Schrecken, den der 22. Juli 2016 über uns gebracht hat, bin ich unendlich dankbar für die Mitmenschlichkeit.“

Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) sagt: „Wenn Amokläufer und Attentäter etwas gemeinsam haben, dann, dass sie Misstrauen, dass sie Angst und dass sie Hass verbreiten wollen. Doch ich sage ganz deutlich: Dieses zynische Kalkül ist weder in unserer Stadt noch in den anderen betroffenen Städten aufgegangen.“

Einige Hinterbliebene tragen T-Shirts mit Fotos der Toten auf der Vorderseite. Auf dem Rücken stehen die Namen, das Datum und die Worte „9 Engel, ein Schicksal“. Arbnor Segashi, Bruder des ersten Opfers Armela, dankt auf der kleinen Bühne neben dem Mahnmal seinen Eltern, „die mir jeden Tag aufs Neue die Kraft gegeben haben, mit diesem Schicksal umzugehen.“ Auch er kämpft mit den Tränen. Die neun Opfer würden niemals vergessen: „Der liebe Gott trägt diese neun Menschen jetzt in seinen Armen. Und wir sollten sie in unseren Herzen tragen.“

Der Amokläufer selbst wird an diesem Tag nicht ausgeklammert. David S. galt als Außenseiter, von Mitschülern gemobbt. Die Ermittler sehen in Demütigungen das Motiv für die Tat. Doch es gibt auch andere Theorien: Eines seiner Vorbilder war der norwegische Massenmörder Anders Breivik, ein Rechtsextremist.

Just am Tag vor der Gedenkfeier wurden neue Details bekannt, die für mögliche rechtsextremistische Beweggründe des Täters sprechen. Oberbürgermeister Reiter geht darauf kurz ein: „Im Hinblick auf die Erkenntnisse, dass der Täter rechtsextreme Gesinnung hatte, gilt mehr denn je: Wir müssen auch weiterhin gegen jede Form von Extremismus, Rassismus und menschenverachtende Gewalt aufstehen.“