Amokläufe sind keine Auswüchse unserer Tage. Vor hundert Jahren hat der Lehrer Ernst Wagner in Mühlhausen an der Enz ein Massaker angerichtet.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Mühlhausen/Enz - Wir schreiben das Jahr 1906. Im Wirtshaus Adler bei Radelstetten auf der Schwäbischen Alb sitzen die Dorflehrer in dichten Tabakschwaden beim Abendschoppen. An den anderen Tischen klopfen die Bauern einen Binokel, erhitzte, glänzende Gesichter. Der Wirt am Zapfhahn kommt kaum zur Ruhe. Am Lehrertisch erzählt Schulmeister Wingerter, die Chinesen bestraften faule Kinder, indem sie ihnen Ringe unter die Augen malten. Ernst Wagner erstarrt. Was hat Wingerter ihm da vorgeworfen? Sodomie? Homosexualität? Wagner wird laut: Wie er das gemeint habe? Na, so wie er es gesagt habe. Er habe gewiss ihn gemeint, er wisse wohl alles. Wovon solle er wissen? Na, er wisse schon. Jetzt schaut die ganze Wirtschaft zu Wagner rüber. Sie wissen also Bescheid, alle. Hinter seinem Rücken schütten sie ihren Spott über ihn aus. Hoch erregt verlässt er das Wirtshaus. Es wird der Tag kommen, da werden sie nicht mehr lachen. Dann lacht er. Und es wird furchtbar werden.

 

Diese überlieferte Begebenheit ist eine der wenigen, in denen die Paranoia des Ernst Wagner offen zu Tage tritt. Sonst macht er immer alles mit sich selbst aus. Wie weit ist er damals schon jenseits von Gut und Böse? Wie tief in seinen Wahn verstrickt? Seine endlosen autobiografischen Notizen, die der Nachwelt Einblick in sein Innenleben gestatten, beginnt er drei Jahre später. Das Ende der Aufschriften mündet in das Massaker von 1913, bei dem er seine Familie auslöscht und in Mühlhausen wahllos weitere neun Menschen tötet.


So, die Memoiren wären jetzt geschrieben, und was an mir liegt, so bin ich jetzt für die Nachwelt gerettet. Weil ich schon nicht selber lebte, so muß ich doch in eurem Angedenken . . . Jetzt muß ich bloß noch das Messer kaufen. Ich will auch meine Patronen zählen und meine Revolver proben . . . Seit sechs Jahren ist mein steter Gedanke Mord. Er erwacht mit mir und legt sich nieder mit mir. Er stört mich bei meiner Arbeit und ängstigt mich in meinem Träumen. Wer hat so oft wie ich Beil und Dolch zu Bettgenossen gehabt?

Nach der Bluttat gelangt „der Mordbrenner“, wie man ihn jetzt nennt, zu trauriger Berühmtheit. „Wenn du nicht parierst, mach ich’s wie der Wagner“, lautet fortan ein geflügeltes Wort. Hermann Hesse steht er wohl Pate für dessen Novelle „Klein und Wagner“. Und nicht zuletzt sichert sich Wagner mit seinem Amoklauf einen Platz in der Psychiatriegeschichte.

Wie wird man zum Massenmörder? Ernst Wagner wird 1874 in Eglosheim in ärmlichen Verhältnissen geboren. Der Vater stirbt, als er zwei Jahre alt ist. Das Kind wächst zu einem intelligenten Jungen heran. Trotz seiner Herkunft kann er das Lehrerseminar in Nürtingen besuchen, wird Hilfs- und Unterlehrer in verschiedenen Schulen Württembergs. Als er Mitte zwanzig ist, zeigt sich erstmals: mit ihm stimmt etwas nicht. Wegen hochgradiger nervöser Erregbarkeit wird Wagner ein halbes Jahr beurlaubt. 1901 kommt er als Unterlehrer nach Mühlhausen an der Enz. Wagner, der sich im Grunde viel zu schade ist für diese engen Verhältnisse, stolziert in gelben Schuhen und mit weißer Weste umher, spricht jetzt nur noch Hochdeutsch. Von den jungen Frauen im Ort fühlt er sich stark angezogen, so auch von den Töchtern des Gastwirts Schlecht, Rosine und Anna.


Alles an mir ist Wunsch und Begierde und ich hätte doch alle Ursache Vernunft anzunehmen; denn mein Auge ist trüb und grau ist mein Haar, o Narr, was sollen die Frauen . . . Manch eine geht vorüber, deren Sehnsucht ist größer als die der Konkordia. Wenn du an meinem Tisch vorbeigehst, so lass es mich doch wissen. Du kannst vor dich hinsummen: einsam bin ich und ganz alleine. Ich werde dann aufstehen und sagen: ich, mein Kind, bin ganz der deine.

Eines Abends im Sommer 1901 muss etwas passiert sein, das sein Leben unaufhaltsam in die Katastrophe lenkt. „Ich bin Sodomist“, beginnt er seine Aufzeichnungen. Verging er sich an Tieren? Meint er homosexuelle Handlungen oder Onanie – im Lichte damaliger Weltsicht nicht minder verwerfliche Neigungen, die auch im Sprachgebrauch unter denselben Begriff fallen? Ist seine Fantasie mit ihm durchgegangen? Es wird nie genau untersucht. Jedenfalls ist er der irrigen Überzeugung, er sei an jenem Tag bei seiner Schandtat beobachtet worden. Seitdem fühlt er sich von den Mühlhausenern verfolgt und verhöhnt.

Eine Heirat ohne Romantik

Er beginnt ein Verhältnis mit der 19-jährigen Anna Schlecht, die im Frühjahr 1902 von ihm schwanger wird. Er will sich einer Hochzeit entziehen, wird deshalb nach Radelstetten strafversetzt. Anna droht offenbar, ins Wasser zu gehen ob der Schande. Schließlich heiratet er sie, bar jeder Romantik an einem Werktag. Höchste Zeit für die Mussehe, Tochter Klara ist schon zehn Monate alt. Mit keinem seiner Kinder kann er viel anfangen. Für ihn sind sie Verkörperung seines traurigen Loses. Inbegriff bürgerlicher Beschränkung. Hürden, die einer Entfaltung seines Genies im Weg stehen.

Anna Wagner kann wohl nicht gut mit dem schwierigen Charakter umgehen. Sie wiederum bedeutet ihm nichts. Die Zwangswahl sei zwar nicht übel, meint er, aber größere Komplimente, als ihr einen „tüchtigen Dienstmädchencharakter“ zu attestieren, findet er nicht. Zu Hause starrt er meist in Bücher oder ins Nichts. Manchmal sagt Anna zu ihrem Mann, sie wolle nur auch wissen, wo er jetzt in Gedanken ist.


Ich habe viel gelesen, jedes Jahr für 300-500 Mark Bücher verschluckt. Selten aus größerem Interesse an der Lektüre, sondern zur Ablenkung meines Trübsal brütenden Geistes. Ich wollte aus meinen eigenen Geschichten flüchten in ein erträgliches Milieu.

Bald fühlt er sich auch auf der Alb beobachtet und verspottet. Er glaubt sich an die Bauernkinder verschwendet – für ihn nur Rüpel, Dummköpfe, Schmutzfinken. Er entwirft unzählige kolossale und vor Gewalt strotzende Dramen. Sie finden nie einen Verleger, obwohl er unermüdlich dafür wirbt. Wie besessen schreibt er an seiner Biografie. Und langsam schält sich sein monströser Racheplan heraus.


Tag um Tag vergeht, und ich kann die Stunden nicht finden, da es geschehen soll. Dumpf ist mein Hirn und niedergedrückt meine Seele. Angst, Entsetzen und unnennbares Weh überfällt mich des Abends, wenn es dunkel wird . . . Ich zittere. Bei Tag schüttelt mich frostiges Fieber, bei Nacht schwimme ich im Schweiße. Fürchterliche Träume verscheuchen den Schlaf. Und wenn ich wache, leide ich Folter . . . Jetzt, da mich nur noch wenige Wochen von meiner Tat trennen, bin ich müder als der Abschalom. Und ich habe Lust, mir den Kopf zu zerschellen. Wie konnte mich das Schicksal vor solch eine schwere Aufgabe stellen, mich, den Schwächsten.

Wagner ist jetzt Lehrer in Degerloch, er schreibt am dritten Band seiner Biografie. Seine so lange geplanten Taten sollen nun endlich ausgeführt werden. Er nimmt sich das Frühjahr 1913 vor, verschiebt es dann auf die letzten Tage der Sommerferien.


Ich will lieb sein zu den Meinigen, ehe ihre Lebenszeit verstrichen ist. Meine Kinder nehme ich mit ins Café, wo sie die guten Sachen essen dürfen. Die Buben dürfen Ponny reiten und den Mädchen kaufe ich Schuhe . . . Und wenn sie alle vier Prügel verdienen, so will ich sie ihnen erlassen. Denn ich denke, man müsse eins ins andere rechnen, und fürs Totgeschlagen werden kann man schon einiges hingehen lassen.

Am 4. September, einem Donnerstag, schlägt Wagner gegen 5 Uhr in der Früh seiner schlafenden Frau Anna mit einem Totschläger auf den Kopf, tötet sie dann durch Dolchstiche in Hals und Brust. Mit Nachthemd und Socken bekleidet, geht er in das Schlafzimmer seiner Söhne Robert und Richard, meuchelt sie ebenso mit dem Dolch wie auch seine Töchter Elsa und Klara, die mit ihren zehn Jahren das älteste Kind ist. Den Leichnamen zieht er die Decke über die Gesichter. Er wäscht sich, kleidet sich an, packt seine Reisetasche, fährt mit dem Rad die Weinsteige hinunter zum Bahnhof und um 8.01 Uhr nach Ludwigsburg.

Wagner beherrscht die Schlagzeilen

In der Cluß’schen Brauerei isst er Schinkenwurst mit Brot, trinkt ein Fläschchen Mineralwasser. Danach marschiert er nach Eglosheim zu seiner Schwägerin. Er sagt ihr, er gehe jetzt nach Mühlhausen, um die Kinder abzuholen. Er bittet sie um ein frisches Hemd, seines ist völlig durchgeschwitzt. Seine Nichte begleitet ihn zurück zum Bahnhof, er unterhält sich mit ihr über die Tanzstunde. Weil noch Zeit ist, trinkt er im Bahnhofshotel eine Tasse Kaffee. Mit dem Ein-Uhr-Zug fährt er nach Bietigheim. Dort gibt er noch einige Abschiedsbriefe auf, unter anderem an seine Schwester in Berlin („Nimm Gift! Ernst“), an seinen Rektor und an das „Neue Tagblatt“ in Stuttgart. Er kehrt im Gasthaus zur Krone ein, isst Obst und Hefekranz. Von dem viertel Liter Wein lässt er das meiste stehen. Es ist um Mitternacht, als er schließlich anhebt, in Mühlhausen sein Werk zu vollenden.


Vom Vulkan, der in mir brütet und kocht, hat kein Mensch eine Ahnung. Es kommt die Stunde, da will ich lärmen und Skandal machen, dass euch die Ohren dröhnen. Ich werde Würgeengel sein im Haus, der Würgeengel des Mitleids. Dann will ich die Hölle zum zweiten Mal aufrufen. Ich will euch meinen Hass in den Kopf gerben und in den Bauch löchern, und meines Hasses Flamme soll eure Häuser verzehren und mein Haus und meines Vaters Haus und das Warenhaus dazu.

Mit seinem Benzinfeuerzeug steckt er mehrere Scheunen in Brand. Dann beginnt er seine Wanderung durch den Ort, das Gesicht mit einem schwarzen Schleier seiner Frau bedeckt, in jeder Hand eine Mauserpistole. Er legt an weiteren Stellen Feuer und schießt auf alle Personen männlichen Geschlechts. Dass er auch zwei Mädchen, drei Frauen sowie zwei Stück Vieh trifft, sei keine Absicht gewesen, versichert er später. Es gibt acht Tote und zwölf Schwerverletzte, von denen einer kurz darauf stirbt. Wagner wird schließlich von einem Schutzmann und einem Eisenarbeiter gestoppt, die ihm mit einem Säbel und einer Feldhacke auf Kopf und Hände schlagen. Wagners linker Unterarm muss später amputiert werden. Das Monster ist niedergestreckt. 198 Patronen finden sich noch in der Handtasche seiner Frau, die er bei sich trägt. Da Wagner noch atmet, bringt man ihn in das leer stehende Armenhaus. Die Menge möchte ihn am liebsten lynchen.


Ein billiger Spaß, mit dem Finger auf mich zu deuten. Jeder von euch gedächte besser seiner eigenen Sauerei. Ihr nehmet Anstoß an meiner Sünde? O der Lüge! Die allergrößte Freude hat sie euch bereitet. Das war ein Fressen für eure schmutzigen Rüssel . . . Wenn ich das Geschlechtliche in meinem Leben abziehe, war ich von allen Menschen, die ich kenne, weitaus der beste.

Nach der Untersuchungshaft in Heilbronn wird Wagner von Robert Gaupp und einem zweiten Psychiater untersucht. Beide bescheinigen ihm krankhaften Verfolgungswahn. Das Gericht stellt die Strafverfolgung ein, Wagner kommt in die Heilanstalt von Winnenden, wo knapp hundert Jahre später ein Amoklauf noch schrecklicheren Ausmaßes das Land erschüttert.

Wie nach der Tat des Tim K. ruft man auch damals nach Konsequenzen. Etwa die Aufrüstung der Polizei mit Schusswaffen oder Sperrstunden in Wirtshäusern (wegen der düsteren Andeutungen seinerzeit am Lehrerstammtisch). Trittbrettfahrer kündigen an, das von Wagner Begonnene demnächst vollenden zu wollen. Inzwischen hat auch der Sensationstourismus eingesetzt – allein zur Beisetzung der Opfer kommen 5000 Menschen. In Mühlhausen warten schon Postkartenverkäufer auf sie. Wagner beherrscht die Schlagzeilen.

Zurücksetzung, Kränkung, Rache

In Winnenden erhält er eine Einzelzelle, bekommt monatlich seine Beamtenpension ausgehändigt, darf Besuch empfangen, verfasst Dramen und kann sie in der Anstalt drucken lassen. Robert Gaupp, Direktor der Tübinger Klinik für Gemütskrankheiten, wird den Anstaltsinsassen 25 Jahre bis zu dessen Tod begleiten. „Ich erwartete einen furchtbaren Gewaltmenschen von tierischer Brutalität“, schreibt der Arzt nach dem ersten Treffen, „ein ernster, gramgebeugter Mann in würdiger Haltung trat mir entgegen, höflich, bereit, sich in alles zu fügen, in seinem ganzen Benehmen ein gebildeter Mensch.“ In den 20er Jahren gibt es eine Initiative zur Freilassung Wagners – 1924 besucht ihn sogar der württembergische Innenminister Eugen Bolz. Doch Wagner bleibt interniert. Am 27. April 1938 stirbt er an einer Lungenkrankheit.


Noch niemand hat sich die Mühe genommen, in meiner Seele zu lesen. Sie sehen bei mir nur Schuld und Verworfenheit. Ich verlange darum keine Nachsicht von euch, weil ich keine gegen euch walten lassen will. Ich will mir ein steinern Herz zulegen und eine Stirne von Demant. Ungehemmter Haß soll meine Pläne schmieden, und meiner Rache Wut soll jede Regung von Mitleid ersticken.

Gaupp entwickelt am Fall Wagner seine Theorie der „echten Paranoia“, die im Gegensatz zur Paranoia im Rahmen einer Schizophrenie nicht mit der „Verblödung“ endet. Damit macht er sich einen Namen in der Fachwelt. Für Gaupps Karriere ist Wagner ein Glücksfall. Umgekehrt findet Wagner in dem Mediziner einen Menschen, der sich brennend für ihn interessiert und ihm Anerkennung schenkt. Keiner kommt ihm so nahe wie er. Zwei, die sich brauchen.

„Der Fall Wagner kann heute noch helfen, Amokläufe wie in Winnenden oder im amerikanischen Newtown zu verstehen – leider kennen viele junge Psychiater ihn gar nicht mehr“, sagt Bernd Neuzner, Psychologe und Mitautor des Standardwerks über Wagner. Es gebe viele Parallelen bei den Tätern – so das Motiv der Zurücksetzung, der Kränkung sowie der Rache. „Und es muss eine große Rache sein, eine die weithin ausstrahlt, eine inszenierte Rache mit genau kalkulierter Resonanz in den Medien.“

Man verbrennt Wagners Leib, verstreut seine Asche in alle Winde, kein Grabstein. Sein Gehirn wird entnommen und landet nach einer Odyssee über Berlin, Freiburg und Neustadt/Schwarzwald am Universitätsklinikum Düsseldorf. Dort lagert es immer noch. 1994 nimmt es Bernhard Bogerts, heute Direktor der Uniklinik für Psychiatrie in Magdeburg, unter die Lupe. Er diagnostiziert eine kleine Veränderung in der mittleren unteren Schläfenhirnrinde – „eine Stelle, die limbische Areale mit dem Neokortex verbindet und wichtig für die emotionale Wahrnehmung ist“. Einen ähnlichen Befund hatte der Amokläufer Charles Whitman. Das gleiche Hirnareal sei auch bei manchen schizophrenen Psychosen betroffen, sagt Bogerts. Aber diese Anomalie allein mache noch keinen Menschen zum Mörder. Dazu braucht es mehr.