Das Böse kommt nicht aus dem Nichts. Ein Amoklauf wie in Winnenden steht am Ende eines psychischen Prozesses, sagt Psychiater Joachim Bauer.  

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

Winnenden - Es gibt nicht das Böse, das aus dem Nichts kommt. Eine Tat wie der Amoklauf von Winnenden (Rems-Murr-Kreis) steht am Ende eines psychischen Prozesses. Diesen Schluss legt der Psychiater und Neurobiologe Joachim Bauer von der Universität Freiburg nahe, der am Montag beim Fachtag Gewalt in der Evangelischen Akademie Bad Boll (Kreis Göppingen) über die Grundregeln menschlicher Aggression sprach. Aggression entsteht laut Bauer, wenn soziale Akzeptanz, Beachtung, Zuneigung fehlen. Zu wenig Glückshormone werden ausgeschüttet, und Stress baut sich auf, der in mangelndem Selbstwertgefühl, Depression, Angst oder Aggression mündet. Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie, Strafrecht und Strafverfahren an der Universität Gießen, hat in ihrem Vortrag genau in diesem Punkt eine Übereinstimmung in Täterprofilen ausgemacht: In den Familien der Amoktäter scheine nur auf den ersten Blick alles normal. Hinter der bürgerlichen Fassade zeigten sich jedoch starke Bindungsprobleme.

 

Wem Beachtung und Zuneigung fehle, der sucht nach anderen Wegen, sich gut zu fühlen. Suchtmittel könnten kurzfristig zur Ausschüttung von Glückshormonen führen, dabei leisteten Kokain und Alkohol dieselben Dienste wie übermäßiger Medien- und Internetkonsum, erläuterte Bauer. Das funktioniere dann nach der Devise "Im Leben ein Niemand, im Netz ein Jemand". Auf diese Weise werde versucht, Selbstwertgefühl aufzubauen.

Physischer Schmerz

Aggression entstehe auch bei "willkürlich zugefügtem Schmerz", fuhr Bauer fort. Neurobiologische Studien hätten belegt, dass es sich dabei keineswegs um physischen Schmerz handeln müsse. Das Gehirn reagiere auch auf Demütigung, Ungerechtigkeit, Ausgrenzung, es unterscheide nicht zwischen körperlichem und seelischem Schmerz.

In ihrem Vortrag hatte Bannenberg zuvor gezeigt, dass es sich bei den Tätern umsehr empfindliche Persönlichkeiten handle, die extrem leicht kränkbar seien. Auffällig sei ferner, dass nahezu alle Amoktäter von sich behaupteten, sie seien gemobbt worden, obwohl das faktisch nicht belegbar sei. Bannenberg berichtete von dem Fall eines Schülers, der seitenweise Tiraden über eine Lehrerin verfasst hatte und unter anderem darüber fantasierte, ihr Säure in die Augen zu gießen. Der Anlass erscheint banal: Die Lehrerin hatte ihn etliche Zeit zuvor an die Tafel gebeten, und er hatte dort die Aufgabe nicht lösen können.

Verschiebung von Aggressionen

Das Beispiel illustriert zugleich ein weiteres Phänomen, das wiederum der Neurobiologe Bauer vorstellte: die Verschiebung von Aggressionen. Der Frust könne einerseits sehr lange Zeit latent bleiben, wie im Fall der Lehrerin, und sich andererseits auf andere Personen verschieben. "So wird zum Beispiel der häusliche Ärger in die Schule getragen." Für Außenstehende seien die Zusammenhänge nicht erkennbar, die Tat oder der vermeintliche "Racheakt" erschienen völlig willkürlich. Mit der Verschiebung würden also auch soziale Chancen vertan: Im Normalfall könne Aggression eine regulierende Wirkung in einer Beziehung haben, indem jemand auf den Tisch haue und seine Meinung sage.

Amoktäter sind laut Britta Bannenberg meist narzisstische Persönlichkeiten, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Fähigkeit, Kritik einzustecken, sind schwach ausgeprägt. Die Kriminologin sieht darin auch das Resultat einer individualisierten Gesellschaft, die zwar große Chancen biete, "aber auch eine Menge Verlierer produziert". Gisela Mayer vom Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden, das den Fachtag organisierte, hakte dort ein: "Wir definieren uns heute häufig über die Leistung." Dreh- und Angelpunkt für die Jugendlichen sei in diesem Denksystem die Schule. "Wenn einer dort versagt, gibt es keinen anderen Bereich, in dem er sich wieder aufrichten kann. "

Amoktäter scheitern still, sie sind unauffällig. "Die Schulhofschläger begehen keinen Amoklauf", sagt Bauer. Die ließen ihre Aggression unmittelbar entweichen. Die Stillen aber legten ein "Kränkungsgedächtnis" an, ein Konto, auf dem sie Ungerechtigkeiten und Demütigungen sammelten. Auf diese Weise würden im Hirn Loipen gespurt, die das Denken lenkten. Tröstlich war sein Hinweis, dass das Gehirn alte Loipen löschen und neue spuren könne.

Vorträge und Gespräche beim Fachtag

Fachtag Zweieinhalb Jahre nach dem Amoklauf in der Winnender Albertville-Realschule haben das Aktionsbündnis und die Evangelische Akademie Bad Boll gestern zu einem Fachgespräch eingeladen. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen haben ihre Erkenntnisse über Gewalt, Waffen und Computerspiele vorgestellt und mit Vertretern aus Politik, Pädagogik, Medien und Justiz darüber diskutiert. Am 11.März 2009 hatte ein 17-Jähriger 15 Menschen getötet, bevor er sich das Leben nahm.

Referenten Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie, Strafrecht und Strafverfahren an der Universität Gießen; Professor Joachim Bauer, Oberarzt in der Abteilung Psychosomatische Medizin der Universitätsklinik Freiburg; Manfred Spitzer, Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Uniklinik Ulm, Diplompsychologe Thomas Weber, Leiter der psychologischen Nachsorge in Winnenden.