Die Nachricht über einen toten Flüchtling am berüchtigten Lageso hält die Hauptstadt einen Tag lang in Atem. Am Abend wird klar: Die Geschichte, die ein Helfer über das Internet verbreitet hat, ist nur erfunden.

Berlin - Christiane Beckmann hat eine genaue Vorstellung davon, wie ein würdiges Gedenken aussehen soll. „Für das Kondolenzbuch“, sagt sie, „hätten wir gerne ein kleines Zelt. In der Kleiderkammer ist zu wenig Platz.“

 

Beckmann steht am Mittwochmorgen in der Backsteinschlucht des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales. Sie gehört zum Verein „Moabit hilft“, jener unermüdlichen Truppe von Helfern, die seit dem Sommer hier am berüchtigten Berliner Lageso jeden Tag versuchen, das besser zu machen, was die Hauptstadt nicht gut hinkriegt: die Menschen versorgen, die hier auf ihre Registrierung waren, die Hunger und Durst haben, krank sind, müde und so verzweifelt, dass man als Helfer manchmal am liebsten mitschreien möchte.

Beckmann trägt eine grüne Warnweste und ein Namensschild, darauf steht, dass sie Koordinatorin sei. Vor ihr warten Journalisten und wollen Interviews. Der Grund dafür ist das Internet.

Schnelle Verbreitung auf Facebook und Twitter

Im Internet steht seit dem frühen Morgen etwas, das aussieht wie eine Nachricht: „So. Jetzt ist es geschehen. Soeben ist ein 24-jähriger Syrer, der tagelang am Lageso bei Minusgraden im Schneematsch angestanden hat, nach Fieber, Schüttelfrost, dann Herzstillstand im Krankenwagen, dann in der Notaufnahme – VERSTORBEN.“ Das Posting auf Facebook ist lang. Innerhalb kurzer Zeit werden die Zeilen mehr als 5000-mal im Netz geteilt.

„Moabit hilft“ versendet es sehr früh, Zeitungen, Radiosender berichten daraufhin, dass die Helfer den Tod eines Flüchtlings beklagen. Politiker, die im Landes- und in Kommunalparlamenten sitzen, verbreiten die Nachricht weiter, die Integrationssenatorin kommentiert sie. Alle schreiben, dass es bislang keine offizielle Bestätigung für den Tod gibt.

Die Nachricht hat, obwohl man noch nicht weiß, was an ihr stimmt, eine ziemliche Wucht. Auf Twitter und Facebook verbreitet sie sich rasend schnell. Im Roten Rathaus ist man bereits vor 7 Uhr alarmiert. Die Deutungsmaschine läuft bei Politikern und auch bei Journalisten an: Wenn die Meldung stimmt, was wird das für Folgen haben?

Grabkerzen und Trauerflor

Einerseits: das Lageso ist die derzeit berüchtigtste Behörde der Republik, steht für  Verwaltungsversagen im Umgang mit Menschen, Flüchtlinge stehen dort Tag und Nacht, um auf ihre Registrierung zu warten, auf Taschengeld, Unterkunft, Hilfe. Seit dem Sommer gelingt es nicht, das Chaos aufzulösen. Der Chef musste gehen, damit der verantwortliche Sozialsenator Mario Czaja (CDU) bleiben konnte. Käme es dazu, dass der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) seinen Senator doch entlassen müsste, dann wäre die Koalition am Ende, es gäbe Neuwahlen.

Andererseits: nüchtern betrachtet ist es keine Überraschung, dass von den 80 000 Menschen, die als Flüchtlinge nach Berlin gekommen sind, auch welche sterben. Der Mann brach nach dem, was man zu wissen glaubt, nicht vor dem Amt zusammen. Er soll in einem Krankenwagen gestorben sein, nachdem er bei einem Helfer zu Hause war. Vielleicht nach einer Vorerkrankung. Wie seriös wäre es, eine Kausalkette aufzumachen, wonach die Situation am Lageso ursächlich ist für den Tod? Wenn denn etwas daran stimmt. Für die Macherinnen von „Moabit hilft“ ist das keine Frage. Seit Monaten warnen sie: Es sei nur eine Frage der Zeit, bis es hier Tote gebe. Jetzt ist für sie aus dem Menetekel ihre Wirklichkeit geworden. Zumindest im Internet.

Es ist kurz nach zehn Uhr, der Verein ist jetzt mit zwei Sprecherinnen am Lageso, Diana Henniges und Christiane Beckmann geben Interviews im Minutentakt. „Wir weinen“, sagt Henniges in eine Kamera. Hinter ihr räumen drei Helfer zwei Dutzend Grabkerzen aus einer Plastiktüte, ein weiterer Mensch verteilt Trauerflore für Armbinden. Eine Art Traueranzeige wurde gedruckt und hängt jetzt über den Kerzen an einer Tür.

Diana Henniges weiß schon sehr viel ganz genau: dass der Verstorbene ein 24-jähriger Syrer war, der „einen grippalen Infekt“ hatte. Dass er bei keinem Arzt war und keine Hilfe bekommen hatte. Dass man ihn schon seit Wochen kannte. Dass der junge Mann nicht zur Erstregistrierung am Lageso wartete, sondern einer jener Flüchtlinge war, die hier anstehen, weil sie kein Geld für Essen haben, keinen Krankenschein und keine Unterkunft. „Er war völlig mittellos“, sagt sie. Schuld sei die Situation am Lageso. „Ich bin keine Juristin, aber ich empfinde das als unterlassene Hilfeleistung, und es war fast zu erwarten, dass das passiert.“ In welcher Klinik er starb? „Das darf ich im Moment noch nicht offiziell sagen.“

Die Quelle ist ein Helfer, der auf Facebook aktiv ist

Woher sie das weiß? Sie hat aus ihrer Sicht Grund, ihren Mitstreitern zu vertrauen. Das Posting im Internet stammt von einer Frau, die seit Monaten in Moabit hilft. Aber sie hat selbst überhaupt nichts mit dem Fall zu tun gehabt. Ihre Quelle ist ein anderer Helfer. Sie beschreibt den Chat zwischen den beiden in der vergangenen Nacht: Um 2.11 Uhr meldet sich demnach der Helfer bei ihr. „Das geht so alles nicht mehr. was können wir tun? Ich finanziere seit Monaten Menschen, jetzt werden die auch noch krank. hab gerade einen Mann hier liegen, überlege, ob ich einen Krankenwagen rufen muss.“ Im Weiteren beschreibt der Mann, der Flüchtling habe hohes Fieber, er hole jetzt einen Krankenwagen. Wenig später: „Ok, sitze im krankenwagen herzstillstand“. Und etwas später schreibt er: „Er ist gerade verstorben Ich melde mich hiermit offiziell ab.“

Seitdem: Funkstille. Der Mann, der nach Angaben von Bekannten in den vergangenen Monaten vielen Flüchtenden geholfen hat, meldet sich bei niemandem, ist nicht erreichbar. Derweil rotieren alle offiziellen Stellen, um die Angaben zu verifizieren. Im Roten Rathaus, bei der Polizei, bei der Feuerwehr, in der Gesundheitsverwaltung telefonieren sich diverse Leute die Finger wund. Niemand findet einen Rettungswagen, der einen solchen Einsatz fuhr, niemand eine Rettungsstelle, in der ein syrischer Patient mit Herzstillstand eingeliefert wurde. Die Polizei versucht, den Helfer zu erreichen. Er beantwortet kein Klingeln, kein Telefon. Aber sein Handy ist zwischendurch immer mal wieder an. Gegen Mittag verschwindet das Posting von seiner Seite. „Wir bemühen uns händeringend, Aufklärung zu schaffen“, sagt Diana Henniges. Und muss zugeben, nie etwas Konkretes über den angeblich Verstorbenen gewusst und nicht mit dem Helfer gesprochen zu haben. Von dem berichtet sie: „Wir wissen, dass er sich in seiner Wohnung verbarrikadiert hat.“ Er habe eine SMS geschrieben. Er habe im Moment kein Interesse, über die Sache zu reden, und werde sich schon noch an die Behörden wenden.

Was ist geschehen? Hat sich der Helfer eine ¬Geschichte ausgedacht? Weil die Nerven versagten, weil er übergeschnappt ist, erschöpft? Oder womöglich ganz gezielt, als politischer Akt, weil er zeigen wollte, dass so ein Tod jederzeit möglich wäre? Oder ist gar etwas Schlimmeres passiert? Für die Polizei ist aus der Suche eine Ermittlung geworden. Am Abend gelingt es ihr, mir dem Mann zu sprechen. Kurz vor 22 Uhr ist klar: Der Helfer hat die ganze Geschichte erfunden. Warum? „Das muss er selbst sagen“, sagt der Polizeisprecher.

Die Situation kennt nur Verlierer: Keiner will einen Toten. Aber das Spiel mit der Lüge über einen Toten ist auch eine Katastrophe. Das Internet, in dem diese Geschichte angefangen hat, ist weit gediehen mit seinen Urteilen. Von manipulierenden Gutmenschen ist da die Rede und von Behörden, die was vertuschen. Von Medien, die wahlweise alles berichten oder nichts, weil sie ja zensiert werden. Davon, wie zerstörerisch das Internet sei.

Es ist dunkel. Am Lageso stehen Menschen in Viehgittern Schlange.