Die erfolgsverwöhnte Wirtschaft Venetiens braucht eine neue Politik. Aber womöglich kommt die alte wieder.

Vincenca - Doch, es fährt ein Zug nach Villa Bartolomea. Er wartet sogar schon, in diesem eisigen Morgengrauen, auf dem Bahnhof von Verona. Einen uralten Triebwagen haben Italiens Staatseisenbahnen da aufgeboten, ohrenzerfetzend knattern die Dieselmotoren, nach kaltem Dieselrauch riecht er innen. Heizung? Was für Ansprüche! Dann ruckelt der Wagen los – und steht gleich wieder. Er probiert’s noch mal – und steht. Nach dem dritten Versuch – noch vor Ende des Bahnsteigs – gibt das Ding seinen Geist auf. „Entschuldigung, Signori“, ruft der Schaffner ins Abteil, „mit dem geht heut nix.“ Fröhlich verschwinden Schaffner und Fahrer in der Bar; draußen schimpft eine frierende Frau ihnen nach: „Von wegen Entschuldigung! Das dritte Mal war das schon diese Woche!“

 

Eine halbe Stunde später ist man dann doch auf der Strecke, hinaus in die Dörfer der weiten Po-Ebene. Und eine weitere Stunde später steigt man aus an einem winzigen Bahnhof, um den herum nur muntere Hähne und flötende Vögel nennenswerte Geräusche verursachen. Aber warum hat Bruno Giordano seinen Hightechbetrieb ausgerechnet in dieser verlassenen Ecke der Provinz Verona angesiedelt? Er lacht: „Weil ich von hier komme.“

Giordano, 51 Jahre alt, 1,90 Meter groß, graue, zerzauste Lockenmähne, grauer, knapp sitzender Designeranzug – er ist einer jener erfolgreichen Unternehmer, die der Region Venetien zu einem lange ungebrochenen Aufstieg und zu einer Spitzenstellung in Italien verholfen haben: bodenständig und hoch exportorientiert, kreativ, beweglich, auf Zukunft aus. Ob Präzisionsmechanik für Flugzeuge und Autos, ob Nanotechnologe, Roboter- oder Maschinenbau, ob Kunststofftechnik, Mode, Leder oder einfach die Fertigung von Flaschenverschlüssen für den halben Erdball: da draußen in den Dörfern der Po-Ebene verstecken sich Weltmarktführer. Es sind winzige, kleine, höchstens mittelgroße Betriebe, die der globalen Konkurrenz die Stirn bieten – vor allem aber den widrigen Produktionsumständen im eigenen Land.



Die 130 Beschäftigten der Gruppo Giordano entwickeln und bauen elektronische Steuerungen zur höchstmöglichen Energieersparnis bei Heizungsanlagen – orientiert an Siemens, Viessmann oder überhaupt am deutschen Markt, „weil die Italiener nur auf den Preis schauen, die Deutschen auf Effizienz“. Und dann arbeitet Giordano am „kabellosen Haus“, an einem System von draht- und batterielosen Sensoren, die Helligkeit, Wärme, Raumfeuchtigkeit steuern können, sowie an Fernbedienungen, die ihre Energie allein durch den Druck auf den Schalter gewinnen. Von seinem Zweigwerk in Shanghai aus drängt er damit gerade auf den chinesischen Markt. Und Giordanos Umsatz wächst, Krise hin oder her, seit 2000 stetig um etwa 20 Prozent pro Jahr.

In seinem bunten, aber ungeheizten Büro schimpft Giordano dann über Italien. Über die Bürokratie, „die mich ein Jahr Zeit verlieren lässt für Vorgänge, die ich in Deutschland in zwei Monaten erledige“. Über die „komplett unlogische“ Unternehmenssteuer Irap, „die an meine Personalstärke gebunden ist und es unattraktiv macht, neue Arbeitsplätze einzurichten“. Über die öffentliche Hand, die Lieferungen erst nach Jahren bezahlt und „den Unternehmern damit Liquidität nimmt in einer Krisenzeit, in denen wir von den Banken kaum Geld bekommen“. Und über die „viel zu teure, verschwenderische“ Staatsverwaltung, gegen die nicht einmal Professor Monti als Regierungschef etwas getan habe: „Das kreide ich ihm wirklich an.“ Auf italienischen Firmen lastet nach Auskunft der Weltbank eine Steuer und Abgabenquote von 68,3 Prozent; deutsche zahlen um zwanzig Prozentpunkte weniger. Und die Energie gibt’s in Deutschland auch um 30 Prozent billiger.



Die „politische Klasse“, sagt Giordano – und befindet sich damit in Übereinstimmung mit den meisten seiner Landsleute –, „ist vom realen Geschehen im Land völlig abgekoppelt. Sie interessiert sich nur für ihre Personalspielchen.“ Jetzt in der Krise, „wo viele Familien mit ihrem Geld nicht bis ans Monatsende kommen und an den Tankstellen mehr mit Münzen als mit Scheinen bezahlt wird“, verbreite sich im Land ein „Geist der Negativität“.

Fahrt in die Kreisstadt Vicenza. Für den, der aus Rom oder dem Mezzogiorno anreist, ist das hier ein anderes Italien. Saubere Dörfer, nicht durch Wust an Schwarzbauten gewachsen, sondern durch Planung und Reglement, fröhlich bunte Einfamilienhäuschen statt verfallender Betonskelette, gepflegte statt verwahrloster Landschaft. Die Kopfweiden an den vielen schnurgeraden Entwässerungskanälen zeigen sich in diesem Vorfrühling säuberlich geschnitten, obwohl das niemandem auch nur den geringsten wirtschaftlichen Nutzen bringt. Und das neue Gymnasium in Vicenza lässt nach Architektur und Ausstattung allen Leuten, die entsprechende hauptstädtische Bauten kennen, den Mund zuerst einmal offen stehen.

Gianfranco Refosco leitet den Gewerkschaftsbund CISL in Vicenza. Die Stadt ist immer noch eines der größten Goldschmiedezentren der Welt. Doch von den früher mehr als 6000 Beschäftigten der Branche sind nur 1200 übrig geblieben, und mag sich auch eines der vielen edlen Schmuckgeschäfte in Vicenzas Gassen noch „König Midas“ nennen – dessen Zeiten sind vorbei. „Arbeitslosigkeit war bei uns vor zehn Jahren praktisch unbekannt“, sagt Refosco: „Jetzt suchen in der Provinz 50 000 einen Job. Das hat es seit dreißig, vierzig Jahren nicht mehr gegeben.“

Die Industriedichte im Kreis Vicenza liegt weit über dem italienischen Schnitt. Das moderne Palais, in dem Refosco sitzt, spiegelt das Wohlergehen glänzend wider. „Doch Stimmung und soziales Klima verändern sich, seit jeder in seiner Familie mindestens einen Arbeitslosen hat oder kennt“, sagt Refosco: „Es gibt Zeichen von Resignation einerseits und von Wut auf die Politik andererseits.“ Und das Erfolgsmodell Venetien stößt an seine Grenzen: „Wir sind anarchisch gewachsen, durch einzelne Unternehmer; jede Gemeinde hat ihr eigenes Gewerbegebietchen. So aber geht’s nicht mehr. Wir bräuchten politische Ideen, Entwicklung, Projekte.“

Die Erfahrung mit dem kaputten Triebwagen kennt Refosco zur Genüge: „Die staatliche Infrastruktur ist auf dem Stand von vor vierzig Jahren stehen geblieben. Innerhalb ihres Betriebs sind unsere Firmen international wettbewerbsfähig. Aber sobald es vors Werkstor geht . . .“



Aber was heißt das alles für die bevorstehende Parlamentswahl am Sonntag? Und wie erklären sich die Umfragen, nach denen die Venetier mehrheitlich wieder genau die Politiker wählen werden, die nach weitverbreiteter Ansicht das Land in die Krise geführt haben: das Mitte-rechts-Lager von Silvio Berlusconi und die separatistische Lega Nord? Zusammen liegen sie im Veneto, umgekehrt zum nationalen Trend, sieben bis zehn Punkte vor den Sozialdemokraten. „Es ist eine gewisse Volkskultur“, sagt der Gewerkschafter Refosco: „Die Venetier hegen schon immer eine Feindseligkeit gegenüber den Linken. Und sie lassen sich wie so viele andere Italiener eher von Personen beeindrucken als von Konzepten – die es von Seiten der rechtskonservativen Regionalregierung für das Veneto nicht einmal gibt.“

Der Unternehmer Bruno Giordano beklagt, die Italiener riefen andauernd nach neuen Gesichtern, „und wenn man sie ihnen bietet, dann nehmen sie sie doch nicht. Und so bleibt alles beim Alten.“ Ist das auch der Grund, warum ein Mario Monti nicht durchschlägt, den seine Anhänger bei den Wahlkampfveranstaltungen als die „einzige wirkliche Neuheit im italienischen System“, als den „einzig Seriösen“ feiern? Montis Bündnis kommt laut Umfragen landesweit auf höchstens 15, im Veneto gar auf nur zwölf Prozent – obwohl der Wirtschaftsprofessor nun wirklich kein linker Bürgerschreck ist.

Giordano sagt, den Bürgern sei das wiedergewonnene internationale Ansehen Italiens egal. „Sie sehen Monti als denjenigen, der die Arbeitslosigkeit erhöht, die Steuern vermehrt und die Verarmung gefördert hat.“ Monti, sagt Giordano, „hätte ja die kleinen Leute entlasten können, das hätte den Inlandsverbrauch erhöht, der Konjunktur geholfen und über die Mehrwertsteuer auch dem Staat mehr Geld gebracht. Aber so . . .“

Ähnliches hört man bei Massimo Pavin. Im Hinterland von Padua stellt sein Betrieb Sirmax Spezialkunststoffe für praktisch alle Auto- und Haushaltsgeräte-Konzerne Europas her. Als eine der wenigen wirklich studierten Manager Venetiens – die meisten sind eher zufällig und unvorbereitet an die Spitze ihrer Familienbetriebe geraten – leitet der 48-Jährige auch den Unternehmerverband Confindustria der Provinzhauptstadt. In ihrem heute überdimensionierten, wuchtigen Bürokomplex „Cittadella“ sagt Pavin, Monti habe mit den Reformen in den faktisch dreizehn Monaten seiner Technokratenregierung „die Gleise zur Ausfahrt aus dem italienischen Vor-Bankrott-Stadium gelegt, aber der Erfolg hat die Taschen der Bürger noch nicht erreicht. So konnte man ihn leicht als bloßen Steuererhöher instrumentalisieren.“



Immerhin – aber da ist Pavin der einzige Zuversichtliche – habe der „Faktor Monti“ auch eine Erneuerung in den großen Parteien von Berlusconi einerseits und den Sozialdemokraten von Pier Luigi Bersani andererseits angestoßen: „Da gärt jetzt so vieles. Und das ist meine Hoffnung.“

Was Italien nach den Wahlen braucht, darin sind sich die beiden Unternehmer mit dem Gewerkschafter so gut wie einig: eine handlungsfähige und endlich handlungswillige, eine stabile Regierung. „Egal ob gut oder schlecht, Hauptsache sie hält fünf Jahre“, sagt Bruno Giordano, und welche Partei sie führt, spielt für ihn keine Rolle. Gewerkschafter Refosco und Confindustria-Vertreter Pavin verlangen auf jeden Fall eine Beteiligung Montis an einer Koalition – „egal, wer siegt“, sagt Pavin; „zusammen mit den Sozialdemokraten“, wünscht sich Refosco.

Und bei allen dreien, wie bei so vielen in Venetien, scheint als Ideal immer und immer wieder das „Modell Deutschland“ durch. Der Wunsch nach Effizienz und langfristiger Planungssicherheit dominiert beim Unternehmer Giordano, der einige Jahre lang in Dinslaken den deutschen Zukauf einer italienischen Firma geleitet hat; bei Massimo Pavin ist es der – so gut wie aussichtslose – Wunsch nach einer großen Koalition, die endlich gemeinsam die Probleme des Landes anpacken würde.

Angst haben sie alle drei vor einem Patt im Parlament. Und Pavin kriegt eine grundlegende Skepsis nicht los. „Unsere Protestwähler haben 1987 auch schon mal Cicciolina ins Parlament geschickt.“ Cicciolina (61) heißt mit bürgerlichem Namen Ilona Staller, ist berühmt geworden als Pornostar – und kandidiert nächsten Sonntag wieder. Ihre Privatpartei nennt sich DNA: „Democrazia, Natura, Amore“.